Einstellungen sollten nicht unter dem Begriff »Barrierefreiheit« versteckt werden

Betriebssysteme verfügen über einige praktische Funktionen, die durch ihre Einordnung als Behindertenhilfsmittel aber unnötig stigmatisiert werden.

Rollstuhl-Symbol, das an einer Ecke eingerollt ist. Darunter kommen Zahnräder zum Vorschein.
Software-Einstellungen hinter einem Rollstuhl-Symbol richten sich nicht zwangsläufig an Rollstuhlfahrer. Ein Blick in diese Kategorie kann sich unter Umständen auch für Leute lohnen, die fit wie ein Turnschuh sind. (Montage, Bildquellen: MUTCD road sign, Public Domain; Noun Gears by Loïc Poivet, CC BY 4.0)

Unlängst ist mir in einem Online-Forum die Frage begegnet, ob man auf einem Android-Smartphone nicht YouTube-Videos laufen lassen kann, während der Bildschirm ausgeschaltet ist. Der Hintergrund dazu: Jemand hört gerne Musik und -Podcasts, möchte dabei aber keine unnötigen Akku-Kapazitäten für den Bildschirm verschwenden.

In einer der ersten Antworten wurden irgendwelche speziellen Apps vorgeschlagen. Aber ich wunderte mich, ob das wirklich notwendig ist – schließlich bin ich seit mehreren Jahren im Bereich von Blindenschrift-Technologie tätig und da ist es ganz alltäglich, dass Smartphone-Nutzer dauerhaft einen schwarzen Bildschirm haben. Und tatsächlich: Die gewünschte Funktion ist bereits in Android enthalten; sie ist bloß – wie viele andere nützliche Funktionen in Betriebssystemen – unter den Sonderfunktionen für Barrierefreiheit versteckt.

Es gibt kein gutes Symbol

Funktionen unter dem Begriff »Barrierefreiheit« zusammenzufassen, ist schon deshalb problematisch, weil Barrierefreiheit Dinge umfasst, die kaum diverser sein könnten. So eine Kategorie ist deshalb dazu prädestiniert, zu einer undurchsichtigen Grabbelkiste für alles Mögliche zu werden.

Dieses Problem zeigt sich auch deutlich, wenn man versucht, ein geeignetes Symbol zu finden, das Barrierefreiheit repräsentiert. Der Klassiker schlechthin ist ein Rollstuhl-Symbol, was im öffentlichen Raum in der Regel auch ganz gut passt, weil es hier meistens um bauliche Maßnahmen wie Rampen oder Spezialtoiletten geht, die vor allem Rollstuhlfahrern das Leben erleichtern.

Aber auch in Software ist dieser Klassiker weit verbreitet, obwohl das hier nur selten Sinn ergibt. Inwiefern hindert einen denn ein Rollstuhl an der Benutzung eines Smartphones oder PCs? Die Einstellungen hinter so einem Symbol befassen sich bestenfalls mit motorischen Einschränkungen im Oberkörper, aber noch viel häufiger aber mit dem Sehsinn, der durch ein Rollstuhlbildchen überhaupt nicht repräsentiert wird.

Vielleicht war das ein Grund, warum Microsoft beim Sprung von Windows XP auf Windows 7 das vormalige Rollstuhl-Icon durch etwas Abstrakteres ersetzt hatte. Allerdings war es nun so abstrakt, dass man nur noch mutmaßen konnte, was es überhaupt darstellen soll. Ein Kreis, in den ein Pfeil hinein und ein anderer hinaus zeigt … mit viel Fantasie eine Darstellung von Ein- und Ausgabe? Aber in direkter Gegenüberstellung mit dem alten Icon drängt sich der Verdacht auf, dass es wohl immer noch einen Rollstuhl andeuten sollte.

Links: stark vereinfachtes Piktogramm eines Rollstuhlfahrers (eine sitzende Person mit einem Dreiviertelkreis vom Rücken bis zu den Knien). Rechts: gestrichelter Kreis, in den von oben ein Pfeil hinein und nach rechts ein Pfeil hinaus zeigt, das rechte obere Viertel des Kreises (zwischen den beiden Pfeilen) fehlt.
Rollstuhl oder abstraktes Irgendwas? Wo fühlt man sich mehr daheim, wenn man nach einer Funktion für höheren Kontrast sucht?

In Windows 11 ist dieser Möchtegern-Rollstuhl schließlich einem Symbol gewichen, das einfach nur einen Menschen als Piktogramm darstellt. Das dürfte heutzutage auch der generelle Konsens sein.

Die Bildsuche nach »Accessibility Icon« in der Suchmaschine DuckDuckGo liefert vor allem Piktogramme von Menschen mit ausgestreckten Armen.
Der generische Mensch verdrängt allmählich den spezifischen Rollstuhlfahrer. Ob seine gespreizte Körperhaltung auch eine symbolische Bedeutung hat oder bloß zur Unterscheidung von der Herrentoilette dient, ist mir leider nicht bekannt.

»Einstellungen für Menschen« – das ist eine schöne Symbolik, aber kein gutes Symbol. Denn nun stellt sich die Frage: Für wen sind all die anderen Einstellungen, wenn nicht für Menschen?

Stigma-Kategorie

Das Symbol ist eine Sache, aber weil Bildchen für sich alleinstehend nicht barrierefrei sind, braucht das Ding auch einen Namen – und dieser macht die nichtssagende Allgemeingültigkeit des Mensch-Icons wieder zunichte.

»Einstellungen für Menschen« habe ich in der Praxis noch nirgends gelesen, stattdessen aber die Formulierungen »Eingabehilfen«, »Zugangshilfen« und »Bedienungshilfen«, die einem durch die Blume mitteilen: »Diese Einstellungen sind nicht der Normalfall und wenn du sie brauchst, bist du hilfsbedürftig.«

Die ebenfalls gängigen Begriffe »Barrierefreiheit« und »Zugänglichkeit« (englisch »Accessibility«) klingen in der Theorie vielleicht positiver, werden in der Praxis aber meistens mit Behinderungen in Verbindung gebracht und deshalb kann sich auch hier nicht jeder damit identifizieren, der diese Funktionen brauchen könnte.

Menüpunkt mit Rollstuhl-Symbol, Titel »Zugänglichkeit« und den Untertitel »Funk. für Kunden mit Behinderungen«.
Bist du behindert? Dann bitte hier entlang! Blackberry OS 10 spricht offen aus, was andere nur implizieren.

Außerhalb meiner Tätigkeiten rund um Behindertenhilfsmittel habe ich auch selbst noch nie jemanden gesehen, der eine Barrierefreiheitseinstellung benutzt. Dabei war ich durchaus schon mit Leuten konfrontiert, die für eine vergrößerte Darstellung ihre Bildschirmauflösung so verstellt hatten, dass der gesamte Bildschirminhalt – mangels korrektem Seitenverhältnis – komplett verzerrt war. Die Bildschirmlupe, die es auf praktisch jedem PC gibt, hatte dagegen nie jemand genutzt.

Windows-Dialog »Einstellungen der Maus«, Reiter »Zeigeroptionen«. Im Abschnitt »Sichtbarkeit« stehen u.a. zur Verfügung: »Mausspur anzeigen« und »Zeigerposition beim Drücken der STRG-Taste anzeigen«.
Optionen zur besseren Sichtbarkeit der Maus sind in Windows traditionell ganz ohne Behinderungs-Stigma in den Maus-Einstellungen verfügbar – und ich habe tatsächlich auch schon Leute gesehen, die diese Funktionen nutzen.

Je nachdem, wie man als Software-Hersteller seine Einstellungen für Barrierefreiheit benennt, stigmatisiert man mitunter nicht nur seine Kunden, sondern vielleicht sogar sich selbst. Unter Windows 10 heißt die entsprechende Kategorie etwa »erleichterte Bedienung«. Suggeriert das nicht irgendwie, dass die Standard-Bedienung kompliziert ist, obwohl es augenscheinlich leichter ginge?

Funktionen für Barrierefreiheit sind cool

Das Stigma, das auf Barrierefreiheit haftet, schadet nicht nur Nutzern mit Beeinträchtigungen. Oft haben gerade junge und technikversierte Personen ganz spezielle Anforderungen, in denen solche Funktionen richtig nützlich sein könnten, aber aufgrund der Schubladisierung findet man sie gar nicht erst.

Das Beispiel mit dem YouTube-Hören bei ausgeschaltetem Bildschirm ist ein Beispiel dafür. Ein anderes ist die Aus- und Eingabe per gesprochener Sprache – eine Funktionalität, die als Hilfsmittel schon länger bekannt war, aber in den letzten Jahren kurzfristig zu einem massiven Trend geworden ist.

Auch Bildschirmlupen sind ein Werkzeug, das ich am Anfang gar nicht als Hilfsmittel für sehschwache Computernutzer kennengelernt hatte, sondern als Werkzeug von jugendlichen Nerds. Um das Jahr 2004 herum, als Videostreaming noch kein ernstzunehmendes Thema war, gab es im Fernsehen noch ein recht innovatives Sendeformat über Computerspiele namens GIGA Games. Wenn die Moderatoren dort etwas vorzeigten, was am heimischen Fernsehgerät nur schwer zu erkennen war, vergrößerten sie es mit einer eigenen Software-Lupe. In ähnlicher Manier verwende ich heute die Bildschirmlupe meines Betriebssystems, wenn ich von meinem PC etwas auf meinen Fernseh-Monitor streame.

Monitor zwischen Wandregalen, der in der unteren Hälfte ein vergrößertes Bild anzeigt.
Mein Fernseh-Monitor steht deutlich weiter von mir weg als der Monitor auf meinem Schreibtisch. Aus diesem Grund könnte ich ohne Bildschirmlupe in der unteren Bildschirmhälfte kaum etwas darauf lesen. (Und ja: Es ist tatsächlich nur ein Monitor und kein Fernseher. Ohne Fernseher kann ich als österreichischer Geizkragen, der ohnehin nur streamt, Rundfunkgebühren sparen.)

Auch Funktionen, um den Mauszeiger leichter zu finden, könnten gerade sogenannten Power-Usern zugute kommen, weil die verfügbare Bildschirmfläche gerne mit dem Nerd-Faktor zunimmt. Auf meinem Schreibtisch stehen zum Beispiel drei Monitore nebeneinander und wenn ich auf den rechten gucke, ist der linke nur noch heller Fleck in der Peripherie meiner Netzhaut. Der winzige Mauszeiger wird damit zur sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.

Kategorie für Barrierefreiheit ergibt keinen Sinn

Insgesamt sieht es in vielen Systemen aus, als würde einfach ausgewürfelt, was unter den Begriff »Barrierefreiheit« fällt und was nicht. Ein paar Beispiele aus Windows 10:

  • In den regulären Mauseinstellungen kann man die Mausgeschwindigkeit festlegen, unter »erleichterte Bedienung« das Aussehen des Mauszeigers.
  • In den regulären Bildschirmeinstellungen kann man die allgemeine Skalierung von Bildschirmelementen ändern, die Skalierung von Text kann man aber nur unter »erleichterte Bedienung« ändern.
  • Unter »Personalisierung« kann man ein paar Farbschemata auswählen, extrahohen Kontrast und frei definierbare Farben für einige Elemente gibt es aber nur unter »erleichterte Bedienung«.

Teilweise sind Funktionen offenbar auch doppelt vorhanden. So gibt es etwa die Skalierung von Bildschirmelementen sowohl außerhalb als auch innerhalb der Barrierefreiheits-Kategorie und bezüglich Sound gibt es je nach Kategorie eine »Hauptlautstärke« und eine »Gerätelautstärke«, wobei aber beide offenbar immer den gleichen Wert anzeigen.

Dass Windows 10 ein inkonsistentes Sammelsurium ist, hatte ich ja schon einmal ausführlich bekrittelt. Insofern ist es spannend, sich auch einen Vorläufer anzusehen. In Windows XP waren die sogenannten Eingabehilfen noch auf fünf Reiter verteilt: Tastatur, Sound, Anzeige, Maus und Allgemein. Mit Ausnahme von »Allgemein« taucht jeder einzelne dieser Begriffe im selben Wortlaut auch direkt in den regulären Einstellungen auf. Da stellt sich ernsthaft die Frage, warum das jemals künstlich getrennt worden ist.

Screenshot der Systemsteuerung und des Fensters »Systemsteuerung« in Windows XP.
Trennung von Dingen, die keinen Trennungsgrund haben: Eingabehilfen und ihre gleichnamigen Ex-Partner.

Meine Vermutung ist, dass Entwickler es eigentlich gut meinen, aber damit das genaue Gegenteil bewirken. Sie wollen zeigen »seht her, wir tun etwas für Minderheiten«, aber im Endeffekt marginalisieren und stigmatisieren sie Personen, die sich gar nicht als Minderheiten sehen.

Wenn man schon unbedingt ein Menü für Barrierefreiheitseinstellungen einbauen muss, dann würde ich dort grundsätzlich nur gesammelte Funktionen anbieten, die auch außerhalb dieses Menüs verfügbar sind – und würde das auch klar so kommunizieren. Damit könnte man die Minderheit erreichen, die sich von so einem Menü angesprochen fühlt, ohne gleichzeitig den Rest der Menschheit vor den Kopf zu stoßen.

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Kommentare

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Bisherige Kommentare

  • Anonym

    "Blackberry OS 10 spricht offen aus, was andere nur implizieren." Hoffentlich verscherzt es sich Blackberry nicht mit dem Gendervolk, wenn nur von "Kunden" gesprochen wird.

    Ein vergrößerter Mauszeiger kann auf einem 32-Zoll-Schirm mit 4 K Auflösung wahre Wunder bewirken.

    Die quasi Doppelgleisigkeit in Windows 10 mit der noch vorhandenen Systemsteuerung versus PC-Einstellungen ist wohl darauf zurückzuführen, dass man nicht zu radikal vorgehen und alle alten Einstellungsdialoge sofort auf "modern" umstellen wollte.

    Doch selbst in Windows 11 sind noch Relikte aus der 9x-Zeit vorhanden. Es wurde lediglich das Aussehen der Symbole an die neuen Systeme angepasst. Bedenkt man, dass diese Version ausschließlich als 64-Bit-Ausgabe verfügbar ist, war der Schritt dazu schon sehr mutig. Hinsichtlich der Einstellungsmenüs wird es nur mehr eine Frage der Zeit sein, bis auch dann nur mehr "PC-Einstellungen" verfügbar sind.

    Was das Chaos in den Einstellungsdialogen betrifft, möchte ich (trotz überzeugter Apple-Verweigerung) auf MacOS verweisen. Dort wird mit wiederkehrender Regelmäßigkeit gezeigt, wie einfach es doch sein kann, Einstellungsmenüs zu gestalten.
    Zugegeben - als Windowsanwender sucht man nach bestimmte Punkten manchmal nicht nur lange, sondern auch an den völlig falschen Orten, doch insgesamt sind die Dialoge einfacher und meistens auch logischer.

    Um ehrlich zu sein, es ist mir lieber (auch wenn ich nicht behindert bin), wenn die Unterstützung für Menschen mit Einschränkungen bereits so fortgeschritten ist wie in den aktuellen Systemen und mit jeder Version besser wird, als ich hätte als Betroffener zwar ein ganz tolles Icon, jedoch würde ich gewisse Funktionen (und sei es nur eine banale Bildschirmlupe) vergeblich suchen...

    • Michael Treml (Seitenbetreiber)

      Antwort an Anonym:

      Bzgl. Problemen mit dem Gendervolk hat Blackberry vermutlich den »Vorteil«, ohnehin schon in der Versenkung verschwunden zu sein. Mein Blackberry ist für die meisten Leute nur ein antikes Kuriosum; die letzte Version von Blackberry OS 10 ist laut Wikipedia 2018 erschienen. So etwas hält selbsternannte Kämpfer für Gerechtigkeit zwar auch nicht auf, aber immerhin ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie es so überhaupt zu Gesicht bekommen.

      Und volle Zustimmung zum letzten Absatz: Gute Funktionalität mit schlechter Vermarktung ist aus Nutzersicht natürlich der bessere Kompromiss als schlechte Funktionalität mit guter Vermarktung.