Was gegen Dislikes in sozialen Medien spricht
Im Jahr 2021 hat YouTube die öffentliche Anzeige von Negativ-Bewertungen abgeschafft. Man kann zwar weiterhin auf »Mag ich nicht« klicken, aber die Anzahl dieser sogenannten Dislikes sieht nur noch der damit Abgestrafte.
Wie es sich für eine Video-Plattform gehört, wurde diese Umstellung in einem Video angekündigt … das bald darauf 147.000 Dislikes hatte. Es dauerte danach auch nicht lange, bis Browser-Plugins aus dem Boden sprießten, um die verschwundene Anzeige wiederherzustellen und damit die erbarmungslosen Herzen aller Dislike-Fans zu erobern; und wie man am Erfolg dieser Plugins sieht, besteht an dieser Sorte Mensch kein Mangel.
YouTube dürfte diese Miesepeter nicht komplett verkraulen wollen, sonst ließe sich die Anzeige nicht so einfach wiederherstellen. Viele andere Medien wie etwa Facebook und die Plattform, die nicht mehr Twitter heißt, sind da konsequenter: Dort gibt es gar kein Dislike. Und aus meiner persönlichen Sicht ist das auch gut so.
Likes und Dislikes sagen nicht viel aus
Generell bin ich der Meinung, dass die Aussagekraft von Likes und Dislikes überschätzt wird. Zu meiner Schande gestehe ich, dass ich mich aus Bequemlichkeit selbst viel zu oft von solchen Bewertungen leiten lasse, um große Informationstümpel vorzufiltern, aber wenn ich doch mal abseits der Top-Bewertungen unterwegs bin, stelle ich in der Qualität nur selten einen Unterschied fest.
Das ist insofern auch logisch, weil Bewertungen von wesentlich mehr als nur von der Qualität des Inhalts beeinflusst werden, zum Beispiel:
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Inhaltlicher Kontext
Ein- und derselbe Inhalt kann auf unterschiedlichen Plattformen unterschiedlich aufgenommen werden, weil die Zielgruppe eine andere ist. Aber auch innerhalb einer Plattform können identische Inhalte je nach Ausgangssituation komplett unterschiedlich bewertet werden.
Vor einigen Jahren las ich auf der Nachrichtenseite derstandard.at die Kommentare zu irgendeinem Artikel. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber praktisch alle im Kommentarbereich waren sich einig, dass die ideale Lösung für ein geschildertes Problem doch offensichtlich wäre.
Wenige Tage danach gab es einen neuen Artikel zu dem Thema, weil ein FPÖ-Politiker – die meistverhasste Gattung Mensch für den typischen Standard-Leser – genau diese Lösung vorgeschlagen hatte. Unter diesem Artikel legten Kommentare und Bewertungen plötzlich nahe, dass man ein hirnrissiger Unmensch sein muss, um so eine Lösung auch nur anzudenken.
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Netzwerke
Nachrichtenseiten sind immerhin noch inhaltszentriert, aber soziale Netzwerke legen ihren Fokus stattdessen auf Personen. Dort zählt viel weniger, was gesagt wird, als wer etwas sagt.
»Go @Eagles!!!«, umgeben von mehreren Amerika-Flaggen-Emojis, gepostet während einer großen Sportveranstaltung, ist definitiv kein Kandidat für einen Pulitzer-Preis. Aber weil es ein Tweet von Elon Musk mit seinen über 100 Millionen Followern war, gab es trotzdem rund 66.000 Likes dafür. Und selbst das war ihm noch zu wenig und er hatte daraufhin den Twitter-Algorithmus ändern lassen, damit seine für die Menschheit essentiellen Ergüsse künftig noch mehr Leute erreichen.
Gäbe es auf seiner Plattform Dislikes und würde ich mich auf einen Online-Disput mit ihm einlassen, hätte ich im Gegenzug gute Aussichten darauf, mehr Daumen nach unten zu kassieren als meine Website jemals Besucher hatte … ganz unabhängig davon, was ich sage.
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Zeitlicher Kontext
Wenn man nicht gerade Millionen an Followern hat, dauert es in der Regel ein wenig, um Bewertungen zu sammeln. Gerade in schnelllebigen Medien ist die logische Folge daraus, dass die meisten Likes nicht an die Besten gehen, sondern an die Schnellsten. Wer zu einem brandaktuellen Nachrichtenthema erst einmal einen Tag lang recherchiert und reflektiert, kommt in der Regel zu spät zur Aufmerksamkeits-Party.
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Placebo- und Nocebo-Effekt
Des weiteren muss man davon ausgehen, dass bereits vorhandene Bewertungen in sozialen Medien unsere Wahrnehmung und damit weitere Bewertungen beeinflussen.
Der sogenannte Placebo-Effekt ist vor allem aus der Medizin bekannt: Man gibt einem Patienten eigentlich wirkungslose Möchtegern-Medikamente wie Homöopathika oder Engels-Essenzen, aber allein durch die erhoffte, positive Wirkung fühlt sich der Übers-Ohr-Gehauene tatsächlich besser. Parallel dazu gibt es auch den Nocebo-Effekt bei negativen Erwartungen. Der kommt zum Beispiel dann zur Geltung, wenn Leute von Mobilfunkstrahlen krank werden, die gar nicht vorhanden sind.
Auf soziale Medien umgedeutet heißt das: Wenn mir ein guter Beitrag angekündigt wird, dann nehme ich den Beitrag auch eher als gut wahr – und wenn mir ein schlechter avisiert wird, nehme ich ihn eher als schlecht wahr. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein einmal gut bewerteter Beitrag von immer mehr Leuten hochgewertet und ein einmal schlecht bewerteter Beitrag von immer mehr Leuten abgewertet wird – unabhängig davon, ob die Bewertung gerechtfertigt ist.
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Gruppen-Effekte
Auch ganz unabhängig von einem Placebo-Effekt fällt es zumindest mir persönlich leichter, einen Daumen nach oben zu vergeben, wenn der entsprechende Beitrag schon davor eine sehr gute Bewertung hat.
Sind noch keine, sehr wenige oder negative Bewertungen vorhanden, stelle ich mir nämlich oft Fragen wie: Übersehe ich etwas? Verstehe ich irgendetwas falsch? Wird es irgendjemand sehen, wenn ich hier auf »gefällt mir« klicke und mache ich mir damit Feinde? Wird es Pech und Schwefel regnen bis die Welt untergeht, wenn ich mich gegen die Mehrheitsmeinung stelle? Ist es mir das wert?
Auf derstandard.at – wo Sozialer-Netzwerk-Kram nur beschränkt vorhanden sind – habe ich schon Fälle gesehen, wo Leute im selben Kommentarbereich zum selben Artikel um ähnliche Uhrzeiten fast wortgleiche Kommentare geschrieben hatten; aber die Bewertungen oder Nicht-Bewertungen waren trotzdem so unterschiedlich, dass ich sie mir nur durch solche Gruppenzwänge erklären kann.
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Massen-Effekte
Ganz allgemein ist aus der Massenpsychologie auch bekannt, dass man die größten Menschenmengen nicht mit intellektueller Exzellenz gewinnt, sondern mit den primitivsten Emotionen. Das ist schließlich unser kleinster gemeinsamer Nenner.
Mir fällt es selbst wesentlich leichter, einem dummen Witz einen Daumen nach oben zu geben als einem Fachkommentar, von dem ich mir nicht sicher bin, ob er inhaltlich auch wirklich zu hundert Prozent korrekt ist.
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Käuflichkeit
Nicht zuletzt soll nicht unerwähnt bleiben, dass Likes und Dislikes als Ein-Klick-Meinungsbekundungen auch wunderbar einfach automatisiert werden können. Bei dubiosen Anbietern bekommt man sie daher um ein Taschengeld in Tausender-Paketen.
Dislikes sagen am allerwenigsten aus
Während das grundsätzliche System von Likes und Dislikes bestenfalls einen zweifelhaften Nutzen hat, ist die Aussagekraft von Dislikes im Speziellen noch einmal um eine ganze Hausnummer bescheidener.
Ein Daumen nach oben kann wenigstens dem Empfänger eine Freude machen und ist ein Indikator dafür, dass es dem Gesagten nichts mehr hinzuzufügen gibt. Was sollten Leser auch sonst zurückmelden, wenn sie voll und ganz hinter einem Beitrag stehen? Verfassten sie stattdessen jedes Mal Kurzkommentare wie »volle Zustimmung«, »genau meine Meinung« und »thumbs up«, dann fände so mancher Follower-Superstar zwischen dieser Flut an Lobpreisungs-Spam die vereinzelten gehaltvollen Kommentare nicht mehr.
Wenn man jemandem nicht in vollem Umfang zustimmt, kommuniziert ein Dislike aber im Gegenzug nicht die Information, die wirklich relevant ist – nämlich die Ursache der Ablehnung. Mögliche Gründe gibt es zuhauf und nur selten ist offensichtlich, was konkret verachtet wird.
Nehmen wir als Beispiel diese kontrovers diskutierte Aussage:
»Ich bin für Sommerzeit statt Winterzeit. Da ist es länger hell.«
Ein paar mögliche Gründe zum Schmähen dieser Aussage:
- Der Beitrag ist inhaltlich falsch.
(»Die Sonne scheint unabhängig von unseren zeitlichen Konventionen immer gleich lang.«) - Der Beitrag ist inhaltlich korrekt, widerspricht aber der persönlichen Meinung.
(»Man kann schon sagen, dass es am Abend länger hell ist, aber ich habe es lieber in der Früh hell und bin daher für die Winterzeit.«) - Der Beitrag wurde falsch verstanden.
(»Was? Im Winter soll es länger hell sein? So ein Blödsinn!«) - Der Beitrag ist eine Themenverfehlung.
(»Sommerzeit? Winterzeit? Haben wir nicht eben noch über Gulasch-Rezepte gesprochen?«) - Man ist mit der Formulierung unzufrieden.
(»Es gibt keine Winterzeit – das heißt Normalzeit!«)
Oft bestehen Beiträge auch aus mehr als nur ein oder zwei kurzen Sätzen und dann wird es noch rätselhafter, worauf sich ein Dislike eigentlich bezieht. Ist es die Gesamtaussage – sofern es eine solche überhaupt gibt –, ein einzelnes Detail oder eine Kombination aus verschiedenen Dingen?
Gerade im Internet, wo wildfremde Leute aufeinandertreffen, stellt sich die Frage: Was ist die Information wert, dass Klaus Kellerkatz aus Kleinkirchkaff irgendetwas nicht näher Definiertes aus nicht genannten Gründen nicht gefällt? Unfundierte Meinungen würden mich persönlich bestenfalls dann interessieren, wenn sie von engen Bekannten kommen, aber gerade die wären wahrscheinlich die letzten, die via Klick auf den Das-ist-Kacke-Knopf mit mir kommunizieren.
Wenn man konstruktives Feedback hat, dann sollte man dieses per Kommentar abgeben. Dort kann man ausformulieren, was einen wirklich stört – und falls es nur ein Missverständnis war, lässt sich das dort klären.
Wenn man nur unkonstruktives Feedback hat, kann man das dagegen für sich behalten. Negative Bewertungen, die nicht nachvollziehbar sind, demotivieren nicht nur den damit Gestraften, sondern auch Mitleser, die sich in so einer giftigen Atmosphäre lieber zwei Mal überlegen, ob sie sich selbst zu Wort melden.
Wenn die Strafe zur Belohnung wird
Insbesondere bei kontroversen Themen ist die Intention hinter einem Dislike oft naheliegend: Man gehört zur gegnerischen Fraktion und wertet aus Prinzip abweichende Meinungen ab. In so einem Fall können Dislikes nicht nur nutzlos, sondern sogar kontraproduktiv sein.
Wer ein Thema nur in schwarz und weiß sieht, der ist sich in der Regel bewusst, dass er solche Feinde hat. Ein Berg an Dislikes wird dann nicht als Bestrafung empfunden, sondern als Beleg dafür, einen Nerv getroffen zu haben. Da fühlt man sich sogar noch bestätigt.
Hinzu kommt, dass eine große Menge negativer Bewertungen oft genauso viel Aufmerksamkeit auf sich zieht wie eine große Menge positiver Bewertungen. Damit verschafft man seinen Feinden eine Präsenz, die sie anderweitig gar nicht hätten.
Nicht umsonst sagt man im Internet oft, dass man Trolle – also Personen, die bewusst provozieren – nicht füttern soll. Wenn man jemanden wirklich strafen will, sollte man ihn einfach ignorieren.
Auf die Implementierung kommt es an
Komplizierter wird das Thema in der Praxis dadurch, dass es keine einheitlichen Normen für Likes, Dislikes und Kommentare gibt. Welche technischen Auswirkungen verschiedene Interaktionen haben, ist ganz der jeweiligen Plattform überlassen – und damit gehen natürlich auch die menschlichen Auswirkungen Hand in Hand.
Eine Plattform wie YouTube, die Dislikes nicht anzeigt, lenkt natürlich auch keine Aufmerksamkeit dorthin. Plattformen, die vielgescholtene Beiträge sogar ausblenden, laufen allerdings in Gefahr, Echokammern zu bilden, in denen nur noch eine einzige Meinung sichtbar ist.
Auch Kommentare statt Dislikes können je nach Plattform mehr oder weniger gut funktionieren. Wenn Nutzer die Möglichkeit haben, kritische Kommentare auf ihre Beiträge einfach selbst zu löschen, ist ein Dislike trotz seiner Schwächen mitunter die robustere Form, um sein Missfallen auszudrücken.
Facebooks derzeitigen Ansatz empfinde ich im Grundprinzip als ganz vernünftigen Kompromiss: Dort gibt es zwar kein »gefällt mir nicht«, aber immerhin sieben verschiedene Reaktionen, von denen nicht alle positiv sind. Diese Auswahl ist zwar auch nicht perfekt und kann je nach Kontext missverständlich sein, hat aber immerhin mehr Nuancen als das klassische Schwarz-Weiß-Denken.
Sofern ich nicht irgendetwas verdrängt oder mich irgendwann einmal verklickt habe, habe ich selbst in meinem ganzen Leben noch nie ein Dislike vergeben – obwohl ich früher auf mindestens einer Plattform mit einer solchen Funktion recht aktiv war. Neben den schon genannten Gründen empfinde ich es auch als feig und würdelos, jemanden über einen Kanal schlecht zu machen, der keine Gegenwehr zulässt. Ein Dislike ist in der Regel so, als würde man jemanden treten, der gefesselt und mit einem Sack über dem Kopf am Boden liegt.
Nichtsdestotrotz hilft es vielleicht dem einen oder anderen Hitzkopf dabei, etwas Dampf abzulassen – und ist dann wohl ein besseres Ventil, als einen unsachlichen Hasskommentar abzusondern. Wenn das YouTube-Dislike auch ohne öffentlichen Zähler diese Funktion weiterhin erfüllt, dann würde aber vielleicht sogar ein komplett funktionsloser Placebo-Knopf mit der Beschriftung »Gefällt mir nicht« ausreichen, um zumindest ein wenig Frieden im Web zu bewahren.
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