Ist Grammatik überflüssig, weil wir Wörter unabhängig von der Reihenfolge der Buchstaben erkennen?
Sätze wie im Teaser dieses Artikels liest man im Internet immer wieder. Auf den ersten Blick sieht es aus, als würde so ein Text den Beweis für seine Aussage gleich mitliefern – schließlich konnte man ihn ja entziffern.
Aber wie so oft ist es in Wahrheit komplizierter als es auf den ersten Blick aussieht. Man sollte so ein Textbeispiel jedenfalls nicht als Freibrief auffassen, um nur noch Kauderwelsch in die Tastatur zu klopfen.
Verdrehte Buchstaben: ein alter Hut
Behauptungen über universitäre Studien haben eine Eigenschaft, die man je nach Perspektive als Vorteil oder auch als Nachteil betrachten kann: Sie lassen sich üblicherweise zurückverfolgen und nachprüfen. Schließlich ist Forschern kaum etwas wichtiger, als am laufenden Band Publikationen in die Welt hinauszuschleudern.
So lässt sich als Ursprung allen Übels eine Arbeit eines gewissen Graham Rawlinson mit dem Titel »The Significance of Letter Position in Word Recognition« (»Die Bedeutung der Buchstabenposition in der Worterkennung«) identifizieren. An diesem Werk sind gleich zwei Dinge bemerkenswert:
- Die Arbeit ist aus dem Jahr 1976.
- Es ist »nur« eine Doktorarbeit. Rawlinson schreibt selbst, dass er versucht hatte, seine Kernergebnisse auch anderweitig zu publizieren, dabei aber überall abgelehnt wurde.
Durch diese Umstände ist es unmöglich, mal schnell an eine digitale Kopie zu kommen. Man kann also davon ausgehen, dass trotz der Popularität kaum jemand gelesen hat, was wirklich in dieser Arbeit steht.
Rawlinson scheint selbst nicht besonders froh über die Aufmerksamkeit zu sein, die seine Arbeit im Lauf der Zeit bekommen hat. Auf der Website der University of Cambridge wie auch in einer IEEE-Publikation schreibt er:
»I have seen various comments of how I was suggesting this or that, […] But trying to sort out what may or may not be a factor in word recognition is quite complicated. I was only doing my PhD […]«
In Deutsch sinngemäß:
»Ich habe diverse Kommentare gesehen, dass ich dieses oder jenes vorschlage […] Aber herauszufinden, welche Faktoren die Worterkennung beeinflussen, ist ziemlich kompliziert. Ich habe bloß mein Doktorat gemacht […]«
Du bist gut in Deutsch
Die Original-Arbeit konnte ich also nicht lesen und musste mich stattdessen vor allem auf diverse Internetartikel und meinen eigenen Verstand verlassen. Was laut diversen Quellen eine Voraussetzung ist, damit der Verdrehungstrick funktioniert: Man muss die verwendete Sprache angemessen gut beherrschen. Wer flüssig lesen kann, entziffert üblicherweise nicht mehr jeden einzelnen Buchstaben, sondern erkennt schon auf einen schnellen Blick Wörter anhand ihrer groben Form.
Wer die Situation kennt, einen Text schon drei Mal gelesen zu haben und erst beim vierten Mal einen Buchstabendreher zu bemerken, muss sich also keine Sorgen machen. Das ist kein Zeichen von Demenz, sondern von Kompetenz.
Umgekehrt muss man sich aber bewusst sein, dass man weniger versierten Lesern ein Bein stellt und dann noch hinten nachtritt, wenn man einen chaotischen Buchstabenbrei absondert. Wer ein Vokabel von vornherein nicht kennt, findet es womöglich nicht einmal im Wörterbuch, wenn es komplett falsch geschrieben ist.
Das Entschlüsseln von verdrehten Buchstaben versagt außerdem sehr schnell, wenn es um zszeeenusgmtatme Höewauttrpr geht – entwirrt ausgedrückt: um zusammengesetzte Hauptwörter. Es ist naheliegend, dass sich die ursprüngliche Dissertation an einer englischen Universität ausschließlich mit der englischen Sprache auseinandergesetzt hat – dort sind viele Wörter so kurz, dass man zwischen Anfangs- und Endbuchstaben gar nichts verdrehen kann. Das lässt sich aber nur schwer auf Deutsch übertragen, das für seine Endloswortaneinanderreihungsungetüme berühmt-berüchtigt ist.
Bei zusammengesetzten Wörtern funktioniert die Verdreherei in der Regel nur, solange man sie in Maßen einsetzt und Teilwörter so behandelt als wären sie eigenständige Wörter, bei denen man nur zwischen erstem und letztem Buchstaben etwas verdrehen darf. Das Wort »Gciuroßonse« kann wahrscheinlich niemand entziffern, aber als »Gorßciosune« könnte man mit etwas Phantasie schon erahnen, dass die »Großcousine« gemeint ist.
Du bist schlecht im Mischen
Die üblicherweise getätigte Aussage, dass die Buchstabenreihenfolge komplett egal ist, würde ich aus meiner Sicht auch abseits von zusammengesetzten Wörtern als Übertreibung abstempeln.
Menschen sind ganz schlechte Zufallsgeneratoren, weil sie üblicherweise nach Mustern, Sinn und Bedeutung suchen. Wer einen Satz mit verdrehten Buchstaben schreibt, um zu beweisen, dass die Reihenfolge keine Bedeutung hat, der wird die Buchstaben in der Regel auch genau so verdrehen, dass man die Wörter trotzdem noch einigermaßen gut lesen kann.
Ich selbst musste den verdrehten Satz im Teaser dieses Artikels zugegeben mehrmals umschreiben, damit er – zumindest aus meiner Sicht – auch wirklich gut lesbar ist. Zur Veranschaulichung ein einzelnes Wort in verschiedenen Mischverfahren:
Wort | Mischverfahren |
---|---|
Uäeiinrstvt | Strikt nach Alphabet sortiert |
Usvtnieärit | Von einem Algorithmus sortiert |
Uinvresiätt | Von mir für den Teaser sortiert |
Universität | So sieht das Wort aus, wenn der Mixer defekt ist. |
Dieses Beispiel vermittelt vielleicht schon das Gefühl, dass die Reihenfolge doch nicht komplett egal ist.
Es hängt mit dem Zusammenhang zusammen
Ein ganz essentieller Part für die Worterkennung ist der Kontext. Wenn man im ersten Wort eines Satzes sieht, dass es um Forscher geht, dann wird es dadurch leichter, Wörter wie »Universität« und »herausgefunden« zu entschlüsseln, weil das inhaltlich zusammenpasst.
Dem Teaser dieses Artikels kommt es sicher auch zugute, dass die Überschrift vorab ankündigt, worum es geht. Wer im Internet schon öfters auf so durchgemischte Sätze gestoßen ist, kann den Inhalt meines einführenden Buchstabensalates wahrscheinlich vorhersagen, ohne auch nur das erste Wort lesen zu müssen.
Zum Vergleich ein paar Sätze, die ich willkürlich aus komplett fremdem Kontext zusammengeklaubt habe:
- Wir wneden uns nun der Darstnleulg der Eonapexntilfukitnon als Pteonzrehie zu.
- Die üebrgeleufenan Sionpe gheretön eelmahs dem Fnied.
- Die Iesaltrien aber verunuratetn ewats von dem, was dem Uentrgnag gihewet war.
- In den estern Jharzhnteen knonte die Nahvrseougnrg mit Hnadwrek, Lbenesmtietln und Azrtpxaren in der Seliudng slbest eflrgoen.
Mit guter Allgemeinbildung ist einiges davon vielleicht immer noch lesbar, aber man benötigt zumindest den Satz selbst als Kontext, um von dem, was leicht zu entschlüsseln ist, auf die schwierigen Wörter zu schließen. Die »Gorßciosune«, die ich weiter oben ohne konkreten Kontext als Beispiel gebracht hatte, war deshalb vielleicht sogar schwieriger zu verstehen als manche Fachausdrücke in diesen Beispielsätzen.
Bezüglich Kontext kommt aus meiner Sicht auch ein weiterer Aspekt ins Spiel, den bisher offenbar noch niemand näher beleuchtet hat: Durch die Umsortierung von Buchstaben können auch neue Worte oder Wortbestandteile entstehen, die eine komplett andere Bedeutung haben und damit die Kontextanalyse in die Irre führen.
Man stelle sich vor, ich hätte den Teaser folgendermaßen begonnen: »Froscher enier eschenglin Urinseitvät heban hausuferdengen …« Auch hier habe ich nur die Buchstaben im Wortinneren verdreht, allerdings so, dass sie sprachübliche Silben und Teilwörter mit anderer Bedeutung ergeben. Jetzt ist nicht mehr offensichtlich, dass hier nur Buchstaben verdreht sind, weil die Wortmustererkennung im Gehirn widersprüchliche Signale erhält. Nach dem ersten Wort ist nicht eindeutig, ob es um Forscher oder um Frösche geht.
Ein anderes Textbeispiel zum Selbst-Entschlüsseln: »Bachbausten kennön in irher Rohenfliege nicht gnaz bibeelig sien. Die Unimorstreug muss gissewen Relgen flogen.«
Dass durch ein paar Tippfehler zufällig solche Jabberwocky-Sätze herauskommen, ist natürlich an den Haaren herbeigezogen, aber das trifft letztendlich ja auf die gesamte Theorie zu. In der Praxis wird nur selten jemand komplette Wortinnereien verwursteln. Aber oft reicht es schon, zwei aufeinander folgende Buchstaben zu verdrehen, um den Sinn eines Wortes zu entstellen.
Einen heißen Kandidaten für solche Verwechslungen habe ich sprichwörtlich vor der Haustür: Ich wohne im nördlichen Wien, wo Wein angebaut wird. Und auch beim Schreiben dieses Artikels bin ich über ein Beispiel gestolpert: Ich wollte die Formulierung »Der Ursprung allen Übels« verwenden und passend zum Thema ein Wort verdrehen. So wurde daraus »Der Ursprung allen Übles«. Weil »Übles« aber auch ein korrektes Wort ist (z.B. im Satz »Das ist nichts Übles«), sah das nicht mehr nach einem Buchstabendreher aus, sondern nach einem dringenden Fall für Deutsch-Nachhilfe.
Gestohlene Zeit
Damit kommen wir zurück zur ursprünglichen Frage: Ist Grammatik überflüssig, solange man mit seiner Verdreherei nicht gerade Wörter mit anderer Bedeutung aus dem Zylinder zaubert? Die Antwort lautet ziemlich klar »nein«.
Die Sache mit verdrehten Buchstaben mag ein lustiger Partytrick sein, ist aber sicher kein Blankoscheck, um die Rechtschreibung nach Lust und Laune zu biegen und zu brechen. Ganz im Gegenteil: Gerade weil man mit verdrehten Buchstaben im Wortinneren ganz genau auf den restlichen Kontext achten muss, ist es essentiell, dass alles Andere fehlerfrei bleibt. Die Sprechtechniktrainerin Barbara Blagusz schreibt, dass das Entziffern von Wörtern sofort deutlich schwieriger wird, wenn nur ein einzelner Buchstabe zu viel oder zu wenig ist.
In einer Studie von Keith Rayner et al. wurde außerdem gezeigt, dass verdrehte Buchstaben im Wortinneren die Lesegeschwindigkeit um elf Prozent verringern. Das bekräftigt mich zumindest ein bisschen in meinem eigentlich frei erfundenen Leitsatz zum Thema Schreiben, der da lautet: Die Zeit, die ich mir beim Schreiben spare, ist die Zeit, die ich meine Leser zigfach koste.
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Kommentare
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Bisherige Kommentare
Tony T
Ich hab alles sofort lesen können, nur ein Wort ist mir immer noch nicht klar: "Unimorstreug"
Michael Treml (Seitenbetreiber)
Antwort an Tony T:
Unimorstreug = Umsortierung