Modern zu sein ist nicht mehr zeitgemäß

Es klingt paradox, aber ausgerechnet aktuelle Entwicklungen wie Fortschritte in der Technik führen dazu, dass Aktualität an Bedeutung verliert.

Tastatur und Maus im Steampunk-Stil mit runden Tasten und goldfarbenen Rahmen.
Irgendwie modern, irgendwie aber auch nicht, denn Modernität beinhaltet ganz unterschiedliche Aspekte wie Technik, Mode und Wertvorstellungen. (Bildquelle: Rawf8 auf Adobe Stock)

»Wann lässt du endlich deine Wohnungstür austauschen?«, werde ich regelmäßig von einem Verwandten gefragt. Sein Problem mit der Tür: Sie ist alt. Wir reden hier aber nicht etwa über ein lückenhaftes Holzbrett mit gusseisernen Beschlägen, sondern über eine Tür, die einfach nur älter ist als die meiner Nachbarn und deshalb anders aussieht.

Ich will diese Tür gar nicht tauschen lassen. Ehrlich gesagt finde ich sie sogar stilvoller als die neuen, die mich mehr an den Zugang zu Gefängniszellen als zu Wohnungen erinnern.

Mein Verwandter ist übrigens selbst nicht mehr der Jüngste; ihn tausche ich aber auch nicht aus, nur weil er alt ist. Das hat bei mir System. Mehr noch: Ich besorge mir vielfach sogar neue Dinge, die nicht der aktuellen Mode entsprechen, darunter Kleidung, Elektronik und auch gezielt Nicht-Elektronik. Und besagter Verwandter ist nicht die einzige Person, die mich dafür neckt.

Dabei verstehe ich mich selbst keineswegs als altmodisch. Ganz im Gegenteil: Ich finde das Modernitätsverständnis meiner Kritiker altmodisch. Oder anders ausgedrückt: Ihre Vorstellung davon, modern zu sein, ist in meinen Augen nicht mehr zeitgemäß.

Medien sind nicht mehr vergänglich

Nicht nur bei anfassbaren Dingen ignoriere ich die meisten Trends. So besteht auch der größte Teil meiner Musik-Playlists aus Titeln der 70er bis 90er. Im Gegensatz zu manchem Egozentriker würde ich das nicht darauf zurückführen, dass es in der Weltgeschichte nie bessere Musik gab als um mein Geburtsjahr herum, sondern unter anderem darauf, dass in dieser Ära die technischen Gegebenheiten vorteilhaft waren.

Dass sich trotz 300.000 Jahren Homo sapiens nur relativ wenige wirklich alte Titel in meine Wiedergabelisten verirrt haben, ist insofern logisch, weil es für die längste Zeit der Geschichte gar keine Audio-Aufzeichnungen gab. Wenn der letzte Sänger eines Titels für immer verstummte, nahm er seine Musik ursprünglich mit in den Grabhügel, den Säbelzahntiger-Bauch oder wohin auch immer es ihn hin verschlagen hatte.

Mit der Erfindung von Schrift und Musik-Notation konnten dann zumindest »Kochrezepte« für zukünftige Cover-Versionen hinterlassen werden. Aber mit diesen ersten Aufzeichnungen kam auch eine strenge Vorselektion. Die Zeiten, die wir heute mit höfischem Klavier-Geklimper in Verbindung bringen, waren für den größten Teil der Bevölkerung wahrscheinlich vielmehr von Wirtshaus-Saufliedern geprägt, die schon allein deshalb nur selten festgehalten wurden, weil außerhalb der Elfenbeintürme kaum jemand lesen und schreiben konnte.

Als es dann endlich Audio-Aufzeichnungen auf Walzen und Schallplatten gab, war die Tonqualität erst einmal unterirdisch. Und bei häufigem Abspielen hatten sich die Tonträger auch noch abgenutzt, wodurch die Qualität noch schlechter wurde. Um zwischen all den antiquarischen Aufnahmen mit stumpfem Mono-Klang, Rauschen und Knacken etwas zu finden, was auch heutigen Qualitätsansprüchen halbwegs gerecht wird, braucht man ein dickes Fell auf den Ohren.

Zeichnung eines alten Kurbel-Gerätes mit einem großen Audio-Trichter, einer Vorrichtung für Tonträger-Walzen und der Beschriftung »Graphophone«.
Geräte wie dieses sind nicht gerade für ihren kristallklaren Surround-Sound bekannt. (Bildquelle: Maison de la Bonne Presse, Public Domain)

In den Jahrzehnten danach wurde die Qualität zunehmend besser und von den 70ern bis in die 90er machte das Medium dann eine technische Verwandlung durch. Erst wurden Audiokassetten populär, die wesentlich handlicher als Schallplatten waren und sich obendrein leicht bespielen und kopieren ließen. Anschließend wurden die Medien digital, wodurch sie sich obendrein nicht mehr abnutzten und verlustfrei kopiert werden konnten.

Durch diese Entwicklungen konnte Musik viel mehr Geschmäcker viel umfangreicher bedienen – vom Klimper-Enthusiasten bis zum Sauflied-Schunkler. Und anders als die meisten 100 Jahre alten Aufnahmen kann man jene aus dieser Ära auch heute noch ohne Pelzohren genießen.

Altes ist nicht mehr unzugänglich

Nach der Digitalisierung mischte dann auch noch das Internet die Medienwelt auf und machte Musik aus vergangenen Dekaden so leicht verfügbar wie nie zuvor. Wer im Analog-Zeitalter Retro-Musik hören wollte, musste sich in der Regel noch auf eine Odyssee machen, um bei Fachhändler-Medusen und Flohmarkt-Zyklopen alte Tonträger zu erbeuten. Heute ist die Musik aus dem letzten Jahrtausend nur einen Mausklick oder Finger-Touch entfernt und damit genauso zugänglich wie aktuelle Hits.

Ähnliches gilt für anfassbare Dinge wie Kleidung und Geräte. Hier ist es dank Online-Shops einfacher als je zuvor, die aktuellen Trends zu ignorieren. Als ich mir vor ein paar Jahren eine mechanische Küchenwaage zulegen wollte, hatte ich mich erst in zwei oder drei örtlichen Geschäften umgesehen – wie man das in den vergangenen Jahrhunderten so gewohnt war. Aber diese Läden hatten ausschließlich elektronischen Schnickschnack. Letztendlich brauchte ich die modernere Methode namens Online-Shopping, um an altmodischere Produkte zu kommen.

Produkte auf Amazon zum Suchbegriff »Sanduhr retro«.
Auf Amazon findet man nicht nur neumodischen, neuen Schnickschnack, sondern auch altmodischen, neuen Schnickschnack.

Die Auswahl kennt kaum noch Grenzen

Dass lokale Geschäfte eine stark limitierte Auswahl haben, ist nachvollziehbar. Schließlich sind Lager- und Ausstellungsflächen teuer – ganz besonders in den Ballungsräumen, wo die Kunden herumwuseln.

Versandhändler haben dieses Problem nicht im selben Ausmaß und können deshalb ein wesentlich größeres Sortiment anbieten. Durch diese riesige Auswahl verschwimmt aber auch die Grenze, was gerade im Trend liegt und was nicht.

Unter Videos und Fotos aus den Jahren rund um 1900 herum lese ich heute oft begeisterte Kommentare darüber, wie gut gekleidet die Leute damals waren. Da trugen selbst Straßenarbeiter und Bettler Hemd und Sakko. Aber in Wahrheit hatten sie schwerlich eine andere Wahl, weil das damals einfach der Standard war. Schlabberpullies und Bomberjacken – oder etwas, was auch nur ähnlich aussieht – hätten sie nirgends bekommen.

Schwarz-weiß-Aufnahme von Männern mit Schieberkappen. Die meisten tragen eine Weste oder ein Sakko.
Kohle-Arbeiter im Jahr 1901: nobler gekleidet als manch heutiger Geschäftsführer. (Bildquelle: Video von Mitchell and Kenyon, geteilt von guy jones auf YouTube)

Wenn wir dagegen heute auf städtische Straßen schauen, finden wir einen kunterbunten Mix an Stilrichtungen vom Punk bis zum Schlipsträger. Ich selbst trage gerne Trenchcoats, wie sie bei Männern schon lange außer Mode sind, und in meinem Studium hatte ich unter anderem auch eine Studentin mit mittelalterlichem Umhang und einen Professor mit bunt gemusterten Stehkragenhemden kennengelernt. Das niederschwellige Online-Angebot ermöglicht uns nie dagewesenen Individualismus.

Auch Medien sind heute individueller als je zuvor. Als wir nur eine Handvoll Radiosender hatten, ließen sich die meisten Musikkonsumenten grob in drei Kategorien teilen: Man hörte entweder Michael Jackson, Udo Jürgens oder Beethoven. Heute kann man über das Internet Themensender aus aller Welt konsumieren, quer durch alle Genres bis hin zu Bollywood- und Videospiel-Musik.

Ausschnitt von 55 Einträgen einer alphabetischen Liste von »A Cappella« über »Austropop« und »Bachata« bis »Bollywood«
Nur ein kleiner Ausschnitt der verfügbaren Online-Radio-Genres auf laut.fm.

Wie will man bei dieser Vielfalt überhaupt noch beurteilen, was gerade modern ist? Wenn ich nicht gerade Evergreens spiele, die jeder kennt, sondern irgendeinen Nischentitel von einem großteils unbekannten YouTuber, wer kann dann noch sagen, ob das brandaktuell ist oder doch schon zwölf Jahre alt?

Und welche neueren Titel können noch zu solchen allseits bekannten Evergreens werden, wenn wir nicht mehr auf eine Handvoll Radio- und Fernsehsender beschränkt sind, sondern zigtausend Online-Kanäle zur Verfügung haben? Ich kann heute rund um die Uhr neue Musik hören und trotzdem nie mit den Charts in Berührung kommen.

Neues ist kein Zeichen von Wohlstand mehr

Für diejenigen, die unmittelbar in der Nachkriegszeit aufwuchsen, war es verständlicherweise ein Zeichen von Wohlstand, etwas Neues zu haben. Damals war es noch üblich, Löcher in Socken zu stopfen – ein komplett neues Kleidungsstück musste man sich erst einmal leisten können.

Aber diese Zeiten sind lange vorbei. Heute werden wir in unseren Breiten mit billigsten Klamotten und anderem Kram geradezu überschwemmt und selbst die Ärmeren unter uns leben in einem Wohlstand, von dem die meisten Menschen in der Geschichte nur träumen konnten … und von dem der größte Teil der Welt auch heute noch vergeblich träumt.

Während aber die löcher-stopfende Oma von damals üblicherweise einen Sparstrumpf unter dem Kopfpolster hatte, weil sie die harten Zeiten kannte, ist es heute nicht ungewöhnlich, sich für die unnötigsten Neuerungen zu verschulden. Das neueste Smartphone muss schon drin sein, schließlich würde man sich mit einem zwei Jahre alten, schwarzen Rechteck mit abgerundeten Ecken ja blamieren, wenn es auch ein zwei Wochen junges, schwarzes Rechteck mit abgerundeten Ecken gibt. Und die technische Mehrleistung braucht man unbedingt, um Textnachrichten auszutauschen und Katzenvideos zu schauen. Das muss einem schon 1.000 Euro wert sein, die man nicht hat.

Was hat Neues noch für einen symbolischen Wert, wenn man sich damit nicht mehr als wohlhabend abhebt? Letztendlich verschiebt sich die Bedeutung doch ins genaue Gegenteil: Man zeigt damit nur, dass man zur breiten Masse gehört.

Um heute Wohlstand zu zeigen, muss man sich schon etwas wirklich Luxuriöses wie eine Villa oder eine Jacht gönnen. Aber solche Statussymbole müssen nicht brandneu sein; es wird mich garantiert niemand auslachen, weil mein Ferienschlösschen schon 300 Jahre alt ist.

Weil sich Anwesen und Schiffe nur schwer herumtragen lassen, kann man damit aber auch nicht so leicht protzen. Der Wert kleinerer Produkte ist für das ungeschulte Auge meistens schwer zu erkennen, sofern der Besitzer sich nicht durch überdimensionierte Markenlogos zum wandelnden Werbeplakat macht.

Frau mit Ralph-Lauren-Logo auf Polo-Hemd, dahinter Mann mit McDonald’s- und Coca-Cola-Logo auf seiner Kleidung.
Neuer als neu muss Kleidung nicht mehr sein, aber es macht einen nicht-unerheblichen Unterschied, wessen Logo man darauf trägt. (Bildquelle: Keith Allison, CC BY-SA 2.0, Bild beschnitten)

Stilrichtungen verlieren nicht an Reiz

Gerne werden ganze Stilrichtungen untrennbar mit dem Höhepunkt ihrer jeweiligen Popularität verknüpft. Dabei wird aber ausgeblendet, dass diese Stile auch abseits ihres größten Hypes relativ zeitlos sein können. So ist etwa das Musik-Genre Funk ein regelrechtes Symbol für die 70er, obwohl auch in den 2010ern ein Song namens »Uptown Funk« die US-Charts dominierte und damit unter Beweis stellte, dass dieses Genre keineswegs von gestern ist. Klassische Orchester sind auch nicht bloß etwas für Schnösel in Pinguin-Outfits, sondern spielen in Form von Film- und Videospielmusik bis heute eine große Rolle.

Selbst vermeintlich neue Genres tauchen selten aus dem Nichts auf. Auf YouTube findet sich etwa eine Popcorn-Werbung aus den 50ern, die man aus heutiger Sicht musikalisch klar als Rap einordnen würde – inklusive Slang und rhythmischer Instrumentalbegleitung. Einem noch älteren Song von 1937 fehlen zwar diese letzten beiden Eigenschaften, dafür ist aber der Sprechgesang melodisch fast deckungsgleich mit dem 42 Jahre später erschienenen Titel »Rapper’s Delight«, der als Geburtsstunde des Hip-Hop gilt.

Gezeichnete Popcorn-Figur mit Gesicht. Untertitel: »I’m diggin you ain’t hip old man«.
Selbst rappende Popcorn-Gesichter aus den 50ern rügen ihre Homies, weil sie zu oldschool sind. (Der verpixelte Teil ist nicht obszön, nur verwirrend ohne Kontext.) (Bildquelle: E-Z Pop Commercial (1950s))

Im Kontext von animierten Filmen und Serien ist mir auch schon die ignorante Meinung begegnet, dass nur neuere Zeichenstile oder gar 3D-Animationen noch eine Daseinsberechtigung hätten. Als etwa 2017 ein Reboot meiner Lieblings-Kindheitsserie DuckTales erschien, wurde von manch einem der neue Zeichen- und Animationsstil gelobt, weil jener von 1990 ja nicht mehr zeitgemäß sei. Seltsamerweise hatte ich als Kind in den 90ern aber nie ein Problem damit, dass sich der damalige Zeichenstil kaum von den Donald-Duck-Animationen aus den späten 30ern unterschied.

Bei 3D-Animation kann man im Gegensatz zu reinen Stilfragen natürlich argumentieren, dass es die nötige Technik vor wenigen Jahrzehnten noch nicht gab und sie deshalb moderner ist. Aber so eine technische Entwicklung hat nach meinem Wissensstand noch nie dazu geführt, dass frühere Medienstile obsolet geworden sind. Junge Konsumenten lesen auch heute noch begeistert Mangas, japanische Comics, die nicht nur animationsfrei und in 2D, sondern üblicherweise auch ihn Schwarz-Weiß gehalten sind. Und manche Leute sollen laut Gerüchten sogar noch Bücher ganz ohne Bilder lesen.

Wertvorstellungen haben sich geändert

Eine Sache, die auch aus meiner Sicht durchaus Einfluss darauf haben kann, was noch als zeitgemäß empfunden wird, sind gesellschaftliche Wertvorstellungen. Wichtig ist dabei allerdings, Maßstäbe anzulegen, die auch wirklich von der Mehrheit der Menschen unterstützt werden; den Minderheitentrend, alles abseits einer imaginären Regenbogen-Zuckerwatte-Welt zum Diskriminierungsskandal zu erklären, zähle ich deshalb nicht dazu.

Einigermaßen einig sind sich die meisten von uns dagegen sicher in Bezug auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Das könnte im Bereich von Animationsfilmen und -serien tatsächlich den Tod des klassischen, handgezeichneten Stils rechtfertigen, denn der ist ohne Ausbeutung von Heerscharen an Zeichnern wirtschaftlich kaum finanzierbar. Man könnte bestenfalls versuchen, ihn mit modernen Techniken wie künstlicher Intelligenz zu simulieren.

Schon bestehende Animationen werden dadurch aber keineswegs schlechter. Ganz im Gegenteil: Wenn es keine neuen handgezeichneten Filme mehr gibt, werden die bestehenden nur umso wertvoller. Das ist ähnlich wie bei Pyramiden: Grundsätzlich könnten wir ja auch heutzutage noch welche bauen, aber wir bestaunen stattdessen lieber die bestehenden, weil heute niemand mehr bereit wäre, jahrzehntelang händisch einen Berg abzutragen und anderswo wieder aufzubauen, nur um die Dörrleiche eines Wichtigtuers darin zu verstauen.

Auch bei physischen Produkten sollten wir das bedenken. Dass wir uns heute ständig Neues leisten können, haben wir schließlich zu einem guten Teil Lohnsklaven in Billiglohnländern zu verdanken.

Und unserer Umwelt tun wir mit dem Tick, uns das Neueste nur um der Neuheit willen anzuschaffen, auch keinen Gefallen. Bei dem aktuellen Tempo, mit dem wir auf den Klimakollaps zusteuern, ist es zeitgemäßer denn je, ein wenig auf die Bremse zu steigen.

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