Wieso wir von den Schlechtesten lernen sollten

Hohle Marketing-Phrasen gibt es viele. »Ich habe nur von den Besten gelernt« ist eine, die in feinster Politiker-Manier absolute Superlative andeutet, gleichzeitig aber absolut nichts Konkretes verspricht.
Was sagt es schon über einen selbst aus, von wem man gelernt hat? Alle meine Mathematik-Lehrer ab dem Gymnasium waren mindestens Magister, wenn nicht gar angesehene Universitätsprofessoren, aber würde ich meine heutigen Rechenkünste mit deren Namen bewerben, würden sie mich wohl wegen Rufschädigung verklagen. Ja, ich bin bei den Prüfungen irgendwie durchgekommen, aber meine Stärke ist und war dieses Fach definitiv nie.
Und manch anderer, der mit dem Beste-Lehrer-Spruch hausieren geht, hat sich nicht einmal einer Prüfung gestellt, sondern ist schon stolz auf sich, weil er bloß einem unverbindlichen Vortrag zugehört, ein Buch gelesen oder ein YouTube-Video gesehen hat. Ja, auf alle diese Wege kann man grundsätzlich von »den Besten« lernen, aber darüber, ob man das Gelernte auch verstanden hat und anwenden kann, sagt das nichts aus.
Eine andere spannende Frage ist auch jene, wer »die Besten« überhaupt sind. Geht es nach LinkedIn-Postings, arbeitet jeder für die Besten. Selbst, wenn man von sich aus kündigt, um anderswo hinzugehen, bedankt man sich bei »den Besten« für die Zusammenarbeit … um danach wohl zu den noch Besteren zu gehen.
Aber lassen wir das alles einmal außer Acht und gehen wir davon aus, dass jemand tatsächlich maximal talentiert und engagiert nur von den Besten lernt … dann ist das aus meiner Sicht trotzdem nicht zwangsläufig ein sinnvolles Konzept. Ich würde sogar behaupten, dass es oft besser ist, von den Schlechtesten zu lernen, und in diesem Artikel erkläre ich, wieso ich das so sehe.
Denn sie wissen nicht, was sie tun
Gleich vorweg muss gesagt werden, dass Experten in einem spezifischen Fachgebiet nicht automatisch auch gute Lehrer sind. Gerade an Hochschulen, wo ein handfester Nachweis didaktischer Expertise in der Regel kein Einstellungskriterium ist, sieht man das leider viel zu oft. Da wird der Begriff Vorlesung häufig zu wörtlich genommen und besteht dann bloß daraus, dass der Experte seine viel zu dicht beschrifteten PowerPoint-Folien vorliest. In meinem jahrelangem Studium hatte ich es mir deshalb nach und nach abgewöhnt, Vorlesungen zu besuchen, denn – man mag es kaum glauben – lesen kann ich auch selbst.
Zugutehalten kann man Vortragenden an Hochschulen aber, dass sie in ihrem jeweiligen Fachbereich zumindest wissen, was sie tun. Die Methodik genau zu beschreiben, ist schließlich ein essenzieller Teil jeder wissenschaftlichen Arbeit – mitunter sogar so essenziell, dass die Anwendung zum Nebenschauplatz verkommt und manch einer ausgiebigst über Dinge referiert, die er selbst in der Praxis nie auch nur probiert hat.

Nun bezieht sich der Spruch, von den Besten zu lernen, aber nur selten auf den akademischen Bereich, sondern zumeist auf den wirtschaftlichen, wo in erster Linie die praktischen Ergebnisse zählen – allem voran der Kontostand. Nachdem wirtschaftliche Zusammenhänge extrem komplex sind und erfolgreiche Unternehmer oft nur ihren eigenen Werdegang in allen Details kennen, wissen sie in Wahrheit oft gar nicht, was sie wirklich erfolgreich gemacht hat – auch wenn sie etwas Anderes glauben.
In einem Startup-Seminar wurde mir einmal eine Geschichte von einem Unternehmer erzählt, der angeblich genau verstanden hatte, was seine Kunden wollen. Sie wollten kein Werkzeug und keine 200er-Packung Nägel kaufen, sondern einfach nur ein Bild an die Wand hängen. Also verkaufte er ein Hammer-und-Nagel-Set, das genau auf dieses Bedürfnis ausgerichtet war, und wurde damit wirtschaftlich erfolgreich.
Bis hierher klingt die Geschichte ja noch glaubwürdig … nur endet sie hier leider noch nicht. Irgendwann kam nämlich eine noch einfachere Lösung auf den Markt, sodass sich sein Set nicht mehr verkaufte. Diese neue Lösung war UHU Patafix, mit dem man Bilder einfach an die Wand kleben kann.
Wer dieses kaugummi-artige Zeug schon einmal verwendet hat, sollte wissen, dass dieser Anwendungsfall Humbug ist. In meiner Wohnung hat Patafix nur schwerlich ein größeres Plakat dauerhaft an einer verputzten Wand festgehalten. Wer glaubt, damit einen Nagel ersetzen und ein eingerahmtes Bild an eine Raufasertapete kleben zu können, sollte besser auch daran glauben, dass Scherben Glück bringen.

Für mich war in diesem Seminar jedenfalls klar: Entweder stammte diese Geschichte aus dem Märchenbuch der Gebrüder Grimm oder der Unternehmer hatte selbst keine Ahnung, was seinen Erfolg wirklich ausmacht.
Letzteres könnte ich ihm keineswegs verübeln, denn woher soll man denn wissen, ob man nicht nur zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und die wirklich entscheidenden Dinge komplett im Verborgenen geblieben sind?
Zufälligen Erfolg auf unsere eigenen Tätigkeiten zurückzuführen, ist so tief in uns verankert, dass nicht nur wir Menschen, sondern auch andere Tiere anfällig für solchen Aberglauben sind. Der bekannte Psychologe B. F. Skinner konnte 1948 nachweisen, dass hungrige Tauben, die von einem zeitgesteuerten Automaten gefüttert werden, ihr Verhalten ändern, weil sie offenbar denken, dass eine Bewegung, die sie zum Fütter-Zeitpunkt ausgeführt hatten, ausschlaggebend für die Futterspende war.
Survivorship-Bias: Die Verlierer fragt niemand
Der Unternehmer mit seinem Bildaufhäng-Set ist womöglich gar nicht real, aber echte Menschen, die ordentlich Geld scheffeln und ihre vermeintlichen Weisheiten mit der Welt teilen, gibt es zur Genüge. »Du musst immer 100 Prozent geben« und »du musst dich voll auf eine einzige Sache konzentrieren«, sind recht typische Ratschläge aus dieser Ecke. Und gerade, weil man sie von vielen erfolgreichen Leuten hört, klingt es schnell mal so, als wäre etwas dran.
Allerdings muss man sich vor Augen halten: Wer genau das Gleiche macht und damit scheitert, schafft es in der Regel auch nicht in die öffentliche Wahrnehmung. Den 100-Prozent-Leister, der nach drei Jahren mit einem Burnout zusammengebrochen ist, sieht man nicht. Und den Alles-auf-ein-Pferd-setzen-Typen sieht man auch nicht mehr, seit er Haus und Hof verspielt hat und jetzt vor dem Supermarkt um Kleingeld bettelt.
In der Fachsprache bezeichnet man diese verzerrte Wahrnehmung als Survivorship-Bias, zu deutsch Überlebenden-Verzerrung.
Das klassische Anschauungsbeispiel für diese Verzerrung geht auf den zweiten Weltkrieg zurück, in dem Einschusslöcher an zurückgekehrten Flugzeugen untersucht wurden, um die Panzerung zu verstärken. Obwohl es intuitiv klingt, die Stellen mit den meisten Löchern zu verstärken, war genau das Gegenteil der Fall, denn offensichtlich hatten die vorhanden Löcher ja keinen Absturz verursacht, während andere Flieger mit Löchern an kritischeren Stellen gar nicht erst zurückgekehrt waren.

Genauso sollte man auch in seinem Berufsleben sichergehen, dass man nicht die Fehler wiederholt, mit denen andere schon von der Karriereleiter gestürzt sind und sich dabei das Genick gebrochen haben.
In den Startup-Seminaren, die ich damals besucht hatte, wurde auch berichtet, dass nur die wenigsten Startups mit ihrer ersten Produktidee Erfolg haben. Die meisten erfolgreichen Unternehmer hatten mehrere Anläufe gebraucht, um an die Spitze zu kommen. Aus diesem Grund können die sogenannten Besten vielleicht ein wenig über Rückschläge erzählen, aber diese Rückschläge waren offensichtlich genauso wie die Einschusslöcher in Flugzeugflügeln nicht die wirklich kritischen.
Besonders hüten würde ich mich vor einem Rat von Leuten, die ihr ganzes Leben hindurch immer nur erfolgreich waren, denn das müssen entweder unvergleichliche Glückspilze oder Lügner sein. Das Glück sei ihnen vergönnt, aber Lotto-Gewinner fragt aus gutem Grund auch niemand nach ihrem Erfolgsrezept.
Warum statt Wie
Ein wesentlicher Grund, warum ich besonders gerne aus schlechten Beispielen lerne, ist der, dass sie anschaulich vermitteln, warum man gewisse Dinge in einer bestimmten Art und Weise machen sollte.
Einfach nur konkreten Handlungsvorgaben von Experten zu folgen, ist üblicherweise langweilig und schwer zu merken, weil man alles stur auswendig lernen muss. Kann man dagegen über wirklich grauenhafte Praxisbeispiele lachen, entwickelt man einen persönlichen Bezug zu der Sache. Das ist »aus Fehlern lernen«, aber ohne die Nachteile, die man hat, wenn man die Fehler erst selbst machen muss.
Wenn man als Webdesign-Neuling einmal eine Website gesehen hat, auf der alles zappelt und blinkt, sodass man fast schon einen epileptischen Anfall davon bekommt, dann braucht man hoffentlich keinen Mentor mehr, der einem die trockene Regel vorbetet, dass Animationen sparsam einzusetzen sind.

Das heißt keineswegs, dass man generell keinen Mentor braucht oder mit bloßem Hausverstand nur von den Schlechtesten lernen soll, denn so ganz ohne Anleitung würde einem wohl ein wenig die Orientierung und der Fokus fehlen.
Aber wenn man ständig nur am Rockzipfel seines Lehrers hängt, schränkt das die eigene Entwicklung ein. Die Besten sind in der Regel deshalb die Besten, weil sie nicht bloß andere kopieren. Sie finden neue Lösungen für Probleme, aber dazu müssen sie diese Probleme erst einmal sehen und verstehen. Das passiert nicht, wenn man nur lernt, etablierte Handgriffe roboterhaft nachzumachen. Wer sich zu sehr auf die Besten und deren Expertise versteift, wird immer nur ein Schüler im Schatten seiner Lehrer bleiben.
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