Externes Gedächtnis: Wie ein Wäschekorb mein Hirn entlastet
Das menschliche Gedächtnis merkt sich nicht immer die Dinge, die man tatsächlich brauchen würde. So kann es durchaus vorkommen, dass man zwar alle 150 Pokémon der ersten Generation aufzählen kann, gleichzeitig aber vergisst, dass man schon seit letztem Sonntag feuchte Klamotten in der Waschmaschine hat, die man eigentlich zum Trocknen aufhängen sollte.
Wahrscheinlich liegt es in der Natur von Alltagsbanalitäten, dass einem gerade diese gerne entfallen. Den Kinoabend merkt man sich wegen der Freude darauf leichter als eine anstehende Verabredung mit feuchten Socken.
Vielleicht trägt auch der typische Zeitrahmen von Alltagsaktivitäten dazu bei, dass man sie gerne vergisst. Wenn ich jetzt die Waschmaschine einschalte, interessiert sich mein Kurzzeitgedächtnis nicht dafür, dass ich sie dann in rund einer Stunde ausräumen muss. Aber im Langzeitgedächtnis brauche ich solche Banalitäten erst recht nicht – sonst erinnere ich mich noch als alter Mann am Sterbebett an die stumpfsinnige Geschichte, wie ich an einem sonnigen Samstagvormittag im September meine feuchten Socken aufhängen wollte.
Zum Glück gibt es ein etabliertes Konzept, um sich nicht jeden Mumpitz merken zu müssen: das sogenannte externe Gedächtnis. Damit ist alles im eigenen Umfeld gemeint, was uns in irgendeiner Weise an Dinge erinnert, die wir nicht vergessen wollen.
Wer schreibt, der bleibt
Ein prominentes Beispiel für das externe Gedächtnis sind Einkaufslisten. Aber auch viele andere schriftliche Aufzeichnungen, die wir anfertigen, sind im Prinzip nichts Anderes als solche Gedächtnisstützen – seien es Gesprächsprotokolle in Business-Meetings, Spickzettel in der Schule oder Zugangsdaten, die als Post-it am Monitor kleben. Notiz, Alarm- und Erinnerungsfunktionen am Smartphone oder PC sind letztendlich auch nichts Anderes.
Solche schriftlichen Hilfsmittel sind universell einsetzbar, was gleichzeitig eine Stärke und eine Schwäche ist. Die Stärke liegt darin, dass man sie für alles Mögliche verwenden kann. Die Schwäche liegt darin, dass man im Handumdrehen den Überblick verliert, wenn man sie ohne ausgeklügelter Planung tatsächlich für alles Mögliche verwendet.
Ich kenne jemanden, dem in Microsoft Outlook hunderte fällige Erinnerungen angezeigt werden, die er einfach wegklickt. Dort eine zusätzliche Erinnerung zu setzen, um in einer Stunde die Wäsche aufzuhängen, wäre etwa so sinnvoll, wie eine Notiz auf einen Zettel zu schreiben und diesen anschließend in den Papierkorb zu werfen.
Um ein derartiges Überborden zu vermeiden, kann es sinnvoll sein, individuellere Lösungen für das externe Gedächtnis zu finden.
Der quälende Faden am Finger
Eine ganz klassische Lösung, um sich an eine einzelne Sache zu erinnern, ist ein Faden, den man sich an einen Finger bindet. Ich kann mich erinnern, dass das früher gelegentlich auch in Software als Symbol benutzt wurde, aber in den letzten Jahren scheint das außer Mode gekommen zu sein.
Als jemand, der das in der Vergangenheit tatsächlich ausprobiert hat, kann ich auch berichten, dass es nicht besonders gut funktioniert. Dieses störende Ding am Finger sorgt nicht dafür, dass man zum richtigen Zeitpunkt erinnert wird, sondern lässt einen ununterbrochen daran denken – besonders dann, wenn man sich den Finger so gut abgeschnürt hat, dass die Fingerkuppe auffallend blass wird.
Wäre der Faden aber andererseits so angenehm zu tragen, dass man ihn schon nach kurzer Zeit nicht mehr wahrnimmt, würde er komplett seinen Zweck verfehlen.
Obendrein erinnert dieser Faden sein Opfer nur daran, dass es sich an irgendetwas erinnern soll, aber nicht, woran.
Zur rechtwinkligen Zeit
Um mich gleich morgens daran zu erinnern, dass ich heute irgendetwas beachten muss, hatte ich vor einigen Jahren eine fingerfreundliche Alternative zum Faden gefunden: Ich hatte am Vorabend meinen rechteckigen Wecker um 90 Grad verdreht aufgestellt. Weil ich nach dem Aufwachen immer auf diese Uhr schaue, ist das eine zuverlässige Erinnerung, dass heute irgendetwas zu beachten ist.
Dummerweise sind meine Träume oft so wirr, dass ich unmittelbar nach dem Aufwachen geistig noch nicht ganz im Land der Logik angekommen bin. Da muss ich mir erst einmal bewusst werden, dass ich nicht durch die Luft schwimmen kann, soll aber meinen verdrehten Wecker korrekt interpretieren. Nicht selten widmet sich mein erster Blick ausschließlich den Zeigern und ich bin dann erst einmal zusätzlich verwirrt, weil die vermeintlich angezeigte Zeit komplett falsch ist.
Und auch ein wesentlicher Nachteil des Fingerfadens bleibt erhalten: Ich werde nur daran erinnert, dass ich mich erinnern soll, aber nicht, woran.
Am rechten Ort
Über zerstreute Personen sagt man gerne, sie würden ihren Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre. Diesen Spruch kann man sich zum Vorbild nehmen … im übertragenen Sinn zumindest. Man muss sich sein Smartphone nicht gleich implantieren lassen, aber wo man es nicht hinlegt, kann man es auch nicht vergessen. Wenn ich unterwegs bin, steckt meines fast durchgehend in meinem Mantel oder in meinem Koffer – zwei Dinge, ohne die ich (bei entsprechendem Wetter) nur selten das Haus verlasse und die ich daher noch nie vergessen habe.
Generell hilft es, Dinge, die man leicht vergisst, an solche zu binden, die man nur schwer vergessen kann. In meiner Schulzeit hatte ich des öfteren meinen Regenschirm (einen langen Stockschirm) und meinen Turnbeutel irgendwo vergessen, weil ich diese Dinge ja nicht jeden Tag dabei hatte. Weil ich meine Schultasche im Gegenzug immer mit mir herumschleppen musste, gewöhnte ich mir irgendwann an, meinen Schirm immer über diesem Ranzen abzulegen und den Turnbeutel daran festzubinden. Von da an war ein Vergessen ausgeschlossen und ich musste keinen Gedanken mehr daran verschwenden.
Etwas ganz Ähnliches habe ich mir in Covid-Zeiten angewöhnt, um das Haus nicht ohne Maske zu verlassen: Mein Mund-Nasenschutz hängt immer an der Türklinke. Dadurch komme ich gar nicht aus meiner Wohnung hinaus, ohne die Maske in die Hand zu nehmen.
Stolperfallen
Eine weitere gute Basis für Gedächtnisstützen ist das natürliche Bedürfnis, sich auch innerhalb der eigenen vier Wände von A nach B zu bewegen. Wenn man hier die richtigen Objekte mitten am Weg platziert, stolpert man regelrecht über seine externen Erinnerungen.
Hier komme ich endlich wieder auf das spannende Kernthema dieses Artikels zurück: meine feuchten Socken. Wenn ich meine Waschmaschine starte, stelle ich schon den Wäschekorb daneben. Weil ich für jedes Händewaschen, zum Zähneputzen und auch auf dem Weg zum Kühlschrank dort vorbeigehen muss, ist sichergestellt, dass ich in den nachfolgenden Stunden an das Ausräumen der Waschmaschine erinnert werde.
Wer seine Waschmaschine im Keller stehen hat, wird dort wahrscheinlich nicht so oft vorbei kommen, aber in diesem Fall kann man die Stolperfalle ja auch anderswo aufbauen. Der Wäschekorb weist im Gegenzug zu einem verdrehten Wecker ja schließlich auch fernab der Waschmaschine auf eine sehr konkrete Tätigkeit hin. Es wird sich kaum jemand sagen: »Oha, da steht ein Wäschekorb! Ich muss noch den Hund füttern.«
Ein anderes Beispiel, in dem ich schon effektiv eine Stolperfalle genutzt habe, ist mein Anti-Insekten-Verdampfer – oder wie wir in Österreich dazu sagen: Gelsenstecker –, also ein Gerät, das in einer Steckdose steckt und eine spezielle Flüssigkeit verdampft, um Stechmücken abzuwehren. Ich brauchte das Ding nur nachts bei offenem Fenster im Schlafzimmer, aber weil es hinter dem Bett gut vor mir versteckt war, hatte ich nach dem Aufstehen regelmäßig vergessen, es wieder auszuschalten … bis ich mir angewöhnt hatte, nach dem Einschalten die Verpackung vor die Schlafzimmertür zu legen.
Zu guter Letzt können solche Hindernisse nicht nur als Erinnerung genutzt werden, um etwas zu tun, sondern auch als Warnung, etwas nicht zu tun. So lasse ich in der Küche etwa immer die Ofentür offen stehen, wenn ich etwas herausnehme und zum Abkühlen oben abstelle. Dass mir die Tür im Weg ist, lässt mich dann zwei Mal darüber nachdenken, ob es eine gute Idee ist, das Gefäß, in dem mein frisch gebackenes Brot liegt, mit bloßen Händen anzugreifen.
Noch eine schräge Methode
Was diesem ganzen Konzept sehr zugute kommt, ist ein gewisser Hang zur Ordnung. Stolperfallen wirken natürlich nur, wenn man kein Messi ist, der eine Bergsteigerausrüstung braucht, um über die Müllberge in seiner Wohnung zu kommen.
Meine persönliche Ordnungsliebe beinhaltet neben der Liebe für freie Flächen auch eine Liebe für rechte Winkel. Schon im Gymnasium ärgerten mich Mitschüler damit, meine Schreibutensilien am Tisch ein Stückchen zu verdrehen, weil sie wussten, dass ich diesen Anblick nicht lange ertragen kann.
Heute nutze ich meine Expertise im Stackenblochen als Hirnstütze. Liegt mein Smartphone nicht parallel zur Tischkante, muss ich noch jemanden anrufen oder eine SMS schreiben. Liegt mein Glasschneidebrett in der Küche nicht richtig, muss es gewaschen werden.
Allein sollte man sein
Einen Nachteil haben einige der hier aufgezählten Beispiele zugegeben: Man sollte entweder allein sein oder zumindest ein Umfeld haben, das mitspielt.
Wenn ich im Büro meine benutzte FFP2-Maske an die Türklinke hänge und Verpackungen vor die Tür lege, werde ich mir wahrscheinlich nicht viele Freunde machen. Und im Wohnraum sind sowohl andere Pedanten als auch Chaoten hinderlich. Pedanten könnten mein externes Gedächtnis löschen, indem sie alles aufräumen und geraderücken, während Chaoten mit ihrer Unordnung überall vermeintliche Erinnerungen hinterlassen, die in Wahrheit keine sind.
Artikel-Informationen
Artikel veröffentlicht:
Letzte Aktualisierung:
Neue Artikel jetzt auch per E-Mail
Gefällt Dir diese Website und möchtest Du gerne informiert werden, sobald neue Artikel erscheinen? Dann gibt es gute Nachrichten: Neben Social-Media-Kanälen und RSS gibt es nun auch die Möglichkeit, per E-Mail auf neue Artikel hingewiesen zu werden.
Kommentare
Neuen Kommentar schreiben
Bisherige Kommentare
Tony T
"Dieses anarchistische Chaos macht offensichtlich, dass hier Handlungsbedarf besteht." XDD