Hemden sind praktisch

Das Herrenoberhemd und die passende Kleidung drumherum werden gerne als unbequeme Büro-Uniform verschrien. Dabei kann so ein Hemd wahnsinnig praktisch sein.

Ikonisches Bild eines teilweise aufgeknüpften Hemdes, das eine darunterliegende Superheldenuniform preisgibt. Das Superheldenlogo auf der Uniform entspricht dem WIESOSO-Logo.
Wann immer Übeltäter die Welt mit schlechter Benutzerfreundlichkeit terrorisieren, schreitet WIESOSO-Mann zur Tat. Sein Hemd verbirgt seine geheime Identität, bringt aber auch bodenständigere Vorteile mit sich.

Ich hatte immer ein Talent dafür, auf meine eigene Art unangepasst zu sein. Als ich seinerzeit anfing, Vollzeit in einem verkaufsorientierten Unternehmen zu arbeiten, hatte ich nur ausgeleierte T-Shirts im Kleiderschrank und ließ mir über die nächsten Jahre dann auch noch schulterlange Haare und einen skurrilen Bart wachsen. Als ich dann später Informatik studierte, wäre ich so wohl nicht weiter aufgefallen – aber da war ich mittlerweile zum Hemdträger mit militantem Kurzhaarschnitt mutiert.

Nach meinem Studium war ich nun vorwiegend im Umfeld von Technik-Startups und Sozialunternehmern unterwegs – also auch nicht gerade in konservativen Kreisen. Da kam es im Rahmen von Workshops schon einmal vor, dass ich mit weißem Hemd und schwarzen Lederschuhen neben jemandem stand, der den ganzen Tag barfuß unterwegs war.

Jetzt falle ich also paradoxerweise oft auf wie ein bunter Hund, weil ich farbloser und konservativer gekleidet bin als alle anderen. Die meisten Leute in meinem Umfeld haben es lieber bequem und praktisch. Oder zumindest glauben sie das, denn Hemden sind in diesen Beziehungen besser als ihr Ruf.

Hemd = Herrenoberhemd

Zum Anfang eine kurze Begriffsdefinition: Wenn ich in diesem Artikel von »Hemd« spreche, meine ich damit immer das klassische Herrenoberhemd mit durchgängiger Knopfleiste. Also kein Unterhemd, kein Nachthemd und auch kein Polohemd.

Links: Torso in Unterhemd (mit Weinflasche in der Hand), darunter ein rotes X. Rechts: Torso in Oberhemd (mit Smartphone in der Hand), darunter ein grüner Haken.
Den Lobgesang auf das Unterhemd überlasse ich bodenständigeren Zeitgenossen. Ich stimme hier eine Ode an das Oberhemd an.

Meine Bekehrung zum Hemd

Nachdem ich aus meinem Alltag zunächst nur T-Shirts kannte und die ihren Zweck erfüllten, hielt ich all das Zusatzzeug am Hemd erst nur für unnötigen Zierkram. Die Knopfleiste war in meinen Augen nur dazu da, um ohnehin unter einer Krawatte versteckt zu werden – und so ein Schlips ist ja erst recht nur unnötiger Schnickschnack, der obendrein an einen Strick erinnert.

Schmackhaft machte mir konservative Hemden ausgerechnet ein alternativer Musiker – natürlich ganz unbeabsichtigt. Da es nicht leicht ist, sich mit alternativer Musik über Wasser zu halten, hatte er auch einen Brotjob in einem Büro – und dort saßen wir uns direkt gegenüber. Weil er im Gegensatz zu mir persönlichen Kundenkontakt hatte, war er zur »Büro-Uniform« gezwungen.

Mann in grauem Hemd hinter Schreibtisch. Das Gesicht ist verpixelt.
Die Inspiration für meinen ersten Hemdkauf im Jahr 2007.

Als wir uns nach Monaten täglicher Zusammenarbeit einmal privat trafen, kam mir der Ärmste plötzlich seltsam schlaff und ausgehungert vor. Die naheliegende Erklärung war sein ungewohntes Schlabberpulli-Outfit. Da schoss mir spontan die Eitelkeit ein und ich dachte mir: Wenn er mit Hemd so viel kräftiger und gesünder wirkt, dann muss ich blasser Hungerhaken diesen Effekt doch auch nutzen können.

Ja, das war vollkommen subjektiv und oberflächlich. Erst als geübter Hemdträger wurde mir dann klar, dass es auch objektivere Argumente für Hemden gibt.

Knopfleiste, um einen trockenen Kopf zu bewahren

Das Praktische an der durchgehenden Knopfleiste ist, dass man sie benutzen kann, aber nicht muss. Es wäre eine Sisyphusarbeit, bei jedem Umziehen die volle Länge auf- oder zuknöpfen zu müssen, aber das ist auch gar nicht nötig. Sofern das Hemd nicht gerade hauteng anliegt, kann man genauso bequem hinein- und hinausschlüpfen wie bei einem T-Shirt. Die Knopfleiste gibt einem lediglich eine zusätzliche Option.

Diese Möglichkeit weiß ich ganz besonders dann zu schätzen, wenn ich an einem Hundstag komplett verschwitzt nach Hause komme. Ein T-Shirt lässt mir dann keine andere Wahl, als mir den schweißgetränkten Stoff auch noch in voller Länge über den Schädel zu ziehen. Aus einem Hemd kann ich mich da viel vorsichtiger herauspellen und einen halbwegs trockenen Kopf bewahren.

Der Autor zieht sich ein T-Shirt über den Kopf.
Nicht gerade eine bequeme oder praktische Art, sich an- und auszuziehen.

Die Knopfleiste kann auch Leuten zugute kommen, die in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind und deshalb die Arme nur schwer heben können – vorausgesetzt natürlich, die Finger sind ausreichend beweglich, um die winzigen Knöpfe zu benutzen.

Weitaus weniger und größere Knöpfe hat man dagegen an einem Sakko, das damit auch praktischer ist, als man im ersten Moment meinen würde. Ich würde mich jedenfalls nicht mehr aus einem Pullover wie aus einem Kokon hinausschälen wollen, wenn es nicht sein muss.

Der Transformer unter den Kleidungsstücken

Die Flexibilität eines Hemdes endet aber nicht damit, dass man zwei Optionen zum An- und Ausziehen hat. Die Knöpfe machen Hemden zu regelrechten Verwandlungskünstlern.

Bei Kälte oder Wind kann man sie bis zum Hals zuknöpfen, sonst ein Stück offen lassen. Mit T-Shirts kann man da höchstens variieren, indem man welche mit V-Kragen, rundem Kragen und Rollkragen kauft, aber dann ist man immer an eine Variante gebunden. Wenn man etwa im Winter von Eiseskälte in einen überheizten Bus einsteigt, kann man nicht mal eben einen T-Shirt-Striptease hinlegen, aber man kann bequem ein oder zwei Hemdknöpfe öffnen.

Auf Wunsch kann man sogar noch mehr nackte Haut zeigen – dem stehen in der Regel höchstens soziale Normen entgegen. Als Gigolo kann man sein Hemd auch bis unter die Brust aufknöpfen und die Körperbehaarung hervorquellen lassen. Und am Strand kann man es auch ganz offen tragen und gibt sich damit im Vergleich zu Stringtanga-Trägern immer noch prüde.

Ebenso flexibel sind lange Hemdärmel. Die können durch Umkrempeln jederzeit in kürzere Ärmel verwandelt werden. Indem man den Spalt an der Manschette aufknöpft, wird das Ärmelende breit genug dafür und der steifere Stoff am Ärmelende sorgt für guten Halt. Ein einfacher Stoffärmel wie an T-Shirts ist meistens zu eng oder zu lasch zum Hochkrempeln.

Zwei Fotos von einem Torso in einem langärmeligen Hemd, links komplett zugeknöpft, rechts mit zwei offenen Knöpfen und hochgekrempelten Ärmeln.
Mit einem langärmligen Hemd ist man für jede Temperatur gewappnet.

Unbequeme, teure Freizeitkleidung

Hemden können also durchaus praktisch sein, aber sind sie auch bequem? Das kann wahrscheinlich nur jeder für sich beurteilen, weil das vor allem ein subjektives Empfinden ist. Ich kann es durchaus verstehen, wenn Leute Kragen, Knöpfe oder Manschetten als störend empfinden – ich selbst nehme sie aber nicht bewusst wahr.

Einen großen Einfluss auf die Bequemlichkeit hat sicher der genutzte Stoff – und da gibt es bei Hemden wie bei T-Shirts reichlich Auswahl. Gerade die Frage nach dem Material zeigt mir aber auch, dass die meisten Menschen in meinem Umfeld entgegen ihres Glaubens mitnichten die bequemste Variante bevorzugen.

Konkret meine ich damit Jeans-Stoff. Ich habe erst seit wenigen Monaten wieder ein Paar Jeans in meinem Kleiderschrank und muss sagen, dass diese im Vergleich zu meinen anderen Hosen mit Abstand aus dem dicksten, gröbsten und steifsten Stoff bestehen. Da finde ich es schon erstaunlich, dass ausgerechnet Bluejeans als die Alltagshose schlechthin gelten.

Nahaufnahme von gestapelten Hosen. Der oberste Stoff ist deutlich dicker und stärker strukturiert als alle anderen.
Jeans fallen in meinem konservativen Kleiderschrank ziemlich aus der Reihe, aber sicher nicht aufgrund ihrer überlegenen Bequemlichkeit.

Wer sich konservativ kleidet, muss also nicht unbedingt ein Büroknecht sein – und auch kein besserverdienender Schnösel. Was ich Geizkragen am Leib trage, ist zum größten Teil immer noch deutlich billiger als die Jeans und die bedruckten T-Shirts, mit denen die meisten Leute herumlaufen. Wenn ich also zum nächsten Treffen des My-Little-Pony-Fanclubs mit Hemd und Sakko erscheine, liegt mein scheinbar unpassendes Outfit nicht daran, dass ich ein Spinner bin, sondern daran, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung einfach stimmt.

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