Linkshänder-Scheren: ein bebildertes Warum

Bei spezifischen Linkshänder-Produkten hört man oft von Scheren. Wenn man hinterfragt, warum hier eine angepasste Bauform überhaupt nötig ist, kommt man mitunter zu dem Schluss, dass diese einfachen Geräte raffinierter sind als man auf den ersten Blick sieht.

Zerknittertes und schief geschnittenes Blatt Papier unter einer linkshändig gehaltenen Schere.
Versuch des rechtshändigen Autors, ein Blatt Papier linkshändig mit einer Rechtshänder-Schere zu schneiden. (Dramatisierte Darstellung)

Ein Geständnis vorab: Ich selbst bin Rechtshänder. Der nachfolgende Wortsalat ist also keine Erfahrung aus erster Linkshänderhand, sondern das Ergebnis von logischen Überlegungen, Online-Recherche und verkrampftem Anstarren meiner eigenen Rechtshänder-Scheren. Sollte ich dabei irgendeinen wesentlichen Aspekt übersehen haben, freue ich mich über eine Ergänzung in den Kommentaren.

Ergonomische Griffe sind bloß das Sahnehäubchen

Irgendwann in den letzten Jahren war in einer Online-Diskussion das Thema Linkshänder-Scheren aufgekommen und ich konnte es mir nicht nehmen lassen, einen Gedanken dazu zu teilen. Nach eingängigem Anglotzen meiner eigenen Schneidgeräte hatte ich schließlich eine Vermutung abgegeben, worin ich das größte Problem in linkshändiger Benutzung sehe.

Wie so oft im Web ist aber immer mindestens eine andere Person schlauer. Nein, mein geschildertes Problem sei gar nicht so ein großes Thema – stattdessen gehe es vor allem um die ergonomisch geformten Griffe. Ich solle mir doch einfach einmal meine Scheren daheim anschauen … weil ich das ja offensichtlich noch nicht gemacht hatte.

Also gut, dann starre ich sie noch einmal an, bis sie sich vollständig in meine Netzhaut eingebrannt haben. Und diesmal dokumentiere ich es auch fotografisch. Das Ergebnis: Nein, die von mir genutzten Scheren haben keine Griffe, die ergonomisch an Rechtshänder angepasst sind – oder zumindest nicht in einem Ausmaß, das man ohne Schiebelehre nachvollziehen könnte.

Drei verschiedene Scherengriffe. Kein einziger hat erkennbare Abschrägungen, die auf eine Optimierung für Rechtshänder hindeuten.
Deutet an diesen Scherengriffen irgendetwas darauf hin, dass sie auf Rechtshänder optimiert sind?

Meine einzige Schere, an der ich ergonomische Abschrägungen erkennen kann, ist ein museumsreifes Exemplar, das ich in der Praxis nie benutze.

Links: Daumen greift von rechts unten nach links oben durch einen Scherenring, der in dieser Ausrichtung gut anliegt. Rechts: Daumen greift von links unten nach rechts oben durch dasselbe Auge. Der Ring steht nun vor allem unten deutlich vom Daumen ab, weil er in die Gegenrichtung abgeschrägt ist.
Entweder wächst mein linker Daumen in die falsche Richtung oder diese Griffe sind auf Rechtshänder zugeschnitten.

Vermutlich war diese alte Schere noch ein Qualitätsprodukt, während die neueren Billigramsch sind. Bei ergonomischen Formen kann man schließlich mehr falsch machen als bei plumper Geradlinigkeit.

Natürlich hat meine persönliche Scherensammlung keine statistische Relevanz. Dass auch heute noch Scheren mit ergonomischen Griffen produziert und verkauft werden, dürfte unbestritten sein. Aber dass so etwas Linkshändern nicht gut bekommt, ist ohnehin offensichtlich – und auch laut Linkshänder-Websites nicht der ausschlaggebendste Punkt, weshalb es Linkshänder-Scheren braucht.

Das rechte Scherenblatt geht nach oben

Was Rechtshänder- und Linkshänder-Scheren im Gegensatz zu ergonomischen Griffen immer voneinander unterscheidet, ist die Position der beiden Scherenblätter. Wenn man eine Rechtshänder-Schere öffnet, bewegt sich die rechte Schneide nach oben und die linke nach unten. Auf den ersten Blick ist es vielleicht nicht offensichtlich, aber dieser Umstand ändert sich auch dann nicht, wenn man die Schere umdreht.

Zwei Bilder der selben, geöffneten Schere. Auf einem Bild wurde sie umgedreht, aber in beiden Bildern zeigt das hintere bzw. rechte Scherenblatt nach rechts oben.
Man kann sie drehen und wenden wie man will: Die Rechtshänder-Schere bleibt immer eine Rechtshänder-Schere.

Damit sich stattdessen die linke Schneide nach oben bewegt, muss man eine spiegelbildliche Schere bauen – eben eine Linkshänder-Schere. Und es gibt mindestens drei Gründe, warum das sinnvoll ist.

Problem 1: Das Scherenblatt verdeckt die Sicht

Meine eigene Erkenntnis aus dem Kapitel »Männer, die auf Scheren starren« war die folgende: Als Linkshänder würde mir das rechte Scherenblatt die Sicht versperren.

Als Rechtshänder schaue ich von links auf meine rechte Hand mit der Schere. Ein Blatt Papier liegt auf der linken, unteren Schneide auf und dahinter kommt die rechte Schneide herunter. Damit habe ich einen guten Blick darauf, wo der Schnitt genau verlaufen wird.

Als Linkshänder würde ich – sofern ich alles wie gewohnt, bloß spiegelverkehrt mache – von rechts auf meine linke Hand mit der Schere schauen. Die rechte Schneide kommt dann vor jener Stelle herunter, an welcher der Schnitt verlaufen wird … und versperrt mir daher die Sicht.

Oben: Blick auf schneidende Rechtshänder-Schere von links. Rechts: Blick auf schneidende Rechtshänder-Schere von rechts. Auf dem Schnittgut ist eine Linie aufgezeichnet, an der entlang geschnitten werden soll. Beim Blick von links sieht man sie, beim Blick von rechts wird sie zum Teil vom oberen Scherenblatt verdeckt.
Die Perspektive entscheidet, ob man sieht, wo man entlang schneidet.

Problem 2: Das Schnittgut klappt nach oben

Das Problem mit der versperrten Sicht durch das Scherenblatt könnte man noch relativ leicht umgehen, indem man seine linke Hand einfach weiter rechts hält, sodass man wieder von links auf das Blatt schauen kann. Allerdings ergibt sich hier ein zusätzliches Problem, auf das ich erst durch scherenshop.ch und paper-friends.de aufmerksam wurde.

Schneide ich mit der rechten Hand, halte ich das Blatt mit meiner anderen Hand links von der Schere fest. Dadurch bleibt es gerade und ich kann der Schnittlinie gut folgen. Das Stück, das ich abschneide, klappt dagegen nach unten weg, weil es von der von oben kommenden Klinge nach unten gedrückt wird. Äußerst praktisch – allerdings nur für Rechtshänder.

Ein Linkshänder hält das Blatt stattdessen rechts fest. Damit bleibt das, was man wegschneiden will, schön gerade, aber im Gegenzug klappt das Papier auf der anderen Seite, wo man eigentlich der Schnittlinie folgen müsste, unkontrolliert nach oben, weil hier die Klinge von unten kommt.

Oben: Blatt wird beim Schneiden links festgehalten und klappt rechts von der Schere nach unten. Rechts: Blatt wird beim Schneiden rechts festgehalten und klappt links von der Schere nach oben.
Wo man das Blatt festhält, bestimmt, ob das Blatt rechts der Schere nach unten oder links davon nach oben klappt.

Als Linkshänder könnte man das nur umgehen, indem man seine Arme beim Schneiden überkreuzt. Ab da wird es langsam zirkusreif.

Problem 3: Scherenblätter werden auseinander gedrückt

Der letzte Grund für Linkshänder-Scheren, den ich schließlich auf linkshaenderfakten.de gefunden habe, ist praktisch unsichtbar, aber trotzdem essentiell.

Wenn man den Griff einer Schere hält, dann drückt man durch seine Handhaltung automatisch einen Teil mit dem Daumen von der Hand weg und zieht den anderen Teil mit dem Zeigefinger zur Hand hin. Durch diesen Druck bewegt man am anderen Ende der Schere die Klingen enger zusammen, was die Schneidwirkung oft deutlich verbessert – oder überhaupt erst ermöglicht.

Greift man jetzt aber von der anderen Seite in die Öffnungen, übt man diesen Druck in die verkehrte Richtung aus. Statt die Scherenblätter näher zusammen zu führen, drückt man sie auseinander und die Schere schneidet im schlimmsten Fall nicht mehr, sondern knickt das Blatt bloß noch um.

Visualisierung der ausgeübten Kräfte auf einer Rechtshänder-Schere bei rechtshändiger und linkshändiger Haltung.
Die Finger sollen die Scherenblätter zusammenpressen. Bei Benutzung der falschen Hand machen sie das Gegenteil.

Ob und wie stark dieser Druck ausgeübt werden muss, hängt natürlich vom konkreten Produkt ab. Aber spätestens dann, wenn die Verbindung etwas ausgeleiert ist, wird es wahrscheinlich bei jeder Schere zu einer Notwendigkeit. Wenn das Ding dann für die falsche Hand gemacht ist, hilft nur noch eine gekünstelte Fingerhaltung, um die Scherenblätter zusammen zu bekommen.

Scheren sind ausgeklügelte Technik

Das Wegklappen des Schnittgutes und der Druck durch die Fingerhaltung sind zugegeben Details, die mich ziemlich erstaunt haben. Als ich begonnen hatte, an diesem Artikel zu schreiben, war mir nicht bewusst, dass einfache Scheren so ausgeklügelte Geräte sind. Ich frage mich jetzt nur, ob den Erfindern das auch von Anfang an bewusst war oder ob es sich nur zufällig so ergeben hatte. In jedem Fall macht es aber wesentlich besser verständlich, warum Links- und Rechtshänder jeweils ihre eigenen Scheren benötigen.

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Kommentare

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Ein Lehrer, 2024-04-15 06:00:

Sehr gute und schön dargebotene Analyse. Da können sich andere ein Stück von abschneiden ;)

Bisherige Kommentare

  • Ein Lehrer

    Sehr gute und schön dargebotene Analyse. Da können sich andere ein Stück von abschneiden ;)

  • Tony T

    Spannend! Ich beschäftige mich jedes Mal beim Fingernägelschneiden unfreiwillig mit der Thematik. ;) Eventuell brauch ich für meine rechte Hand eine Linkshänder-Nagelschere. =)

    • Michael Treml (Seitenbetreiber)

      Antwort an Tony T:

      Das ist ein gutes Beispiel. Ich habe zwar eine Nagelschere, benutze aber stattdessen immer einen Nagelzwicker. Bis jetzt habe ich nie darüber nachgedacht, warum ich das so mache, aber die Händigkeit klingt nach einem guten Grund. :-)