Meine Empfehlung zur Wahl: Bleib daheim!
»Geh’ wählen!«, höre ich oft, wenn Wahlen oder Abstimmungen anstehen. »Es ist auch ganz egal, was du wählst, aber jede Stimme zählt«, heißt es dann oft weiter. Und auch oft zu hören ist: »Ein Kreuzchen zu machen, dauert ja nur ganz kurz.«
Ja, das mag schon stimmen: Ein Kreuzchen zu machen, ist gleich erledigt. Das trifft aber auch auf so einiges Andere zu. Mit einer Pistole auf jemanden zu schießen, ist genauso schnell erledigt, aber sowohl ein Kreuzchen als auch ein Schüsschen sollten lediglich der formale Abschluss eines langen und aufwändigen Entscheidungs-Prozesses sein.
Mit einer schlechten Wahl-Entscheidung schießt man sprichwörtlich der ganzen Gesellschaft ins Knie. Deshalb kann es durchaus gerechtfertigt sein, auf sein Wahlrecht zu verzichten.
Wahlpflicht, aber keine Ahnungspflicht
Manche Wahlbeteiligungs-Werbetrommler geben sich nicht mit bloßen Aufrufen zufrieden, sondern wollen sogar – zumindest auf bestimmten Ebenen – eine Pflicht zum Wählen einführen. (In einigen Staaten gibt oder gab es das auch schon.)
Solchen Politik-Enthusiasten dürfte die Einsicht fehlen, dass nicht jeder so tickt wie sie selbst. Oft gehen sie davon aus, dass Nichtwähler »politikverdrossen«, also unzufrieden, oder einfach nur zu faul sind, um zum Wahllokal zu pilgern. Mitunter ist der wahre Grund fürs Nichtwählen aber viel banaler: Man hat einfach keinerlei Bezug zu dem ganzen Politik-Kram und eventuell auch gar kein Interesse, daran etwas zu ändern.
Ich selbst hatte seinerzeit meine ersten Wahl-Erfahrungen in Form von Klassen- und Schulsprecher-Wahlen am Gymnasium. Das waren de facto Pflichtwahlen: Man bekam in irgendeiner Unterrichtsstunde ungefragt einen leeren Zettel ausgehändigt, auf den man einen Namen schreiben sollte.
Das fiel mir von Anfang an schwer, war ich doch ein introvertierter Eigenbrötler, der sich mit seinen Mitschülern nicht mehr als notwendig auseinandersetzt. In der Regel hatte ich nach dem Ausschlussverfahren das vermeintlich geringste Übel gewählt, aber selbst dafür war meine Datenbasis mehr als bescheiden.
Insbesondere die Schulsprecher-Wahl war mir ein Gräuel, denn die Kandidaten waren üblicherweise aus anderen Klassen und Jahrgängen, zu denen ich überhaupt keinen Kontakt hatte. Vor meiner ersten Wahl kamen die Kandidierenden gerade einmal für ein paar Minuten in unserer Klasse vorbei, um sich in jeweils zwei oder drei Sätzen vorzustellen – und das war alles, was ich als Entscheidungsgrundlage hatte.
Aber es geht sogar noch schlimmer. Bei der zweiten Schulsprecher-Wahl wurde mir der Abstimmungszettel für die Pflichtwahl in die Hand gedrückt, ohne dass ich davor auch nur irgendetwas über die Kandidaten gehört hatte. Ergebnis: Da ich außer den Namen nichts kannte, gab ich meine Stimme schließlich jemanden, weil mich sein Nachname an Balu, den Bären aus Disneys Dschungelbuch, erinnert hatte.
Wie man sieht, kann man Leute zwar zum Wählen verpflichten, aber man kann sie nicht dazu verpflichten, kompetent zu wählen. Wer seine Entscheidung auswürfelt, ist keine Bereicherung.
Hisst die weiße Flagge!
Stolz war ich nicht auf mein inkompetentes Wahlverhalten, aber ich wusste auch nicht, was ich sonst tun sollte. Jede Entscheidung wäre ein Schuss ins Balue … nein, ins Blaue … gewesen, aber irgendeine musste ich aufgrund der Pflicht ja treffen.
Als ich bei der nächsten Wahl im Gymnasium wieder ohne vernünftige Entscheidungsgrundlage da stand, war ich wie gelähmt. Ich starrte auf den Zettel vor mir und wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Letztendlich gab ich ihn leer ab. Ich hatte das sogenannte Weißwählen erfunden.
»Erfunden« heißt natürlich nicht, dass vor mir noch nie irgendjemand auf die Idee gekommen wäre, bei irgendeiner Wahl einen ungültigen Zettel abzugeben, aber der springende Punkt ist: Mir hatte nie jemand gesagt, dass das eine Option ist. Ich war deshalb dazu gezwungen, es aus meiner Not heraus neu zu erfinden.
Gerade als politisch Uninteressierter ist es ja alles Andere als selbstverständlich, dass man die Aufforderung, eine Wahl zu treffen, auch mit einer Nicht-Wahl beantworten kann. Und gerade im schulischen Kontext fährt man sonst auch immer besser damit, auf Glück zu spielen als eine Frage gar nicht zu beantworten.
Wenn es unbedingt Pflichtwahlen geben soll, dann wäre aus meiner Sicht unerlässlich, die Möglichkeit einer bewussten Nicht-Entscheidung zumindest klar zu kommunizieren. Bei einer Kreuzchen-Wahl sollte es dazu idealerweise eine eigene Option – zum Beispiel mit der Bezeichnung »keine Entscheidung« – auf dem Wahlzettel geben, damit es selbst die Uninformiertesten nicht übersehen können.
Die konkrete Formulierung so einer Option muss allerdings gut durchdacht sein. Stünde dort sinngemäß „ich halte alle oben genannten für ungeeignete Vollpfosten“, würde das zwar sicher auch den Nerv vieler Menschen treffen, wäre aber nur eine weitere Wahlmöglichkeit, die davon ausgeht, dass man gut informiert ist.
Es ist mir zurecht egal
Jetzt kann man uninteressierten Nichtwählern natürlich ihr Desinteresse zum Vorwurf machen – manchmal vielleicht sogar zurecht. Aber oft gibt es durchaus gute Gründe, warum einem eine Wahl an den Pobacken vorbeigeht.
Soll sich etwa jemand an der Wahl zur österreichischen Hochschülerschaft beteiligen, wenn sein Studium schon so gut wie abgeschlossen ist? Soll er über die Zukunft der Studenten an seiner Hochschule abstimmen, wenn er schon weiß, dass er selbst in zwei Monaten nicht mehr dazugehören wird und dann auch gar kein Stimmrecht mehr hätte?
Oder soll man sich zwangsweise an basisdemokratischen Abstimmungen beteiligen, deren Themen einen überhaupt nicht tangieren? Bei mir im Bezirk gab es vor ein paar Jahren eine Briefabstimmung über die Einführung einer Kurzparkzone. Ich hatte noch nie ein Auto und auch keine Absicht, mir jemals eines zuzulegen. Genauso wenig habe ich als Eigenbrötler Bekannte, die mich per Auto besuchen kommen oder sonst irgendeinen Bezug zum Parkplatz-Thema.
Klar, ich hätte Statistiken einholen und mich unter anderen Leuten umhören können. Ich hätte mir ein differenziertes Bild machen, Vor- und Nachteile abwägen und dann eine informierte Wahl treffen können. Aber wozu? Es ist und bleibt für mich ja trotzdem vollkommen irrelevant und uninteressant.
Aus dem Recht auf eine persönliche Meinung resultiert keine Pflicht, zu jedem Thema eine haben zu müssen. Manchmal mag es ja sinnvoll sein, über den eigenen Tellerrand zu schauen – zum Beispiel, wenn es um Minderheitenrechte geht –, aber oft ist es besser, keine Meinung zu haben, als eine schlecht fundierte. Ich bin nicht der Mittelpunkt der Welt und es ist keine Schande, bestimmte Entscheidungen denen zu überlassen, die mehr davon verstehen.
Es ist zu kompliziert
Basisdemokratische Ja-/Nein-Entscheidungen wie jene zur Einführung einer Kurzparkzone sind inhaltlich zumindest noch relativ überschaubar. Die allermeisten Wahlen fallen allerdings nicht in diese Kategorie, sondern sind wesentlich undurchsichtiger.
Das beginnt schon mit der Anzahl der Optionen am Wahlzettel. Unlängst hatte ich einen Stimmzettel für eine Arbeiterkammer-Wahl erhalten – für insgesamt 16 wahlwerbende Gruppen. Wenn es mir schon zu mühselig ist, mir zu einem einzelnen Thema eine fundierte Meinung zu bilden, wie soll ich dann erst 16 Wahlprogramme mit einem vielfältigen Themenmix konstruktiv gegenüberstellen?
Informationsangebote wie wahlkabine.at (in Österreich) oder der Wahl-O-Mat (in Deutschland) können immerhin dabei helfen, einige Standpunkte zu vergleichen, aber auch das kann nur ein erster Ausgangspunkt für die eigene Entscheidung sein.
In jedem Fall sollte man davon absehen, einfach die höchstbewertete Gruppe zu wählen, die so ein Tool nach Beantwortung einiger Fragen in Form eines Balkendiagramms ausspuckt. Es ist zwar üblicherweise möglich, Antworten zu gewichten und zu priorisieren, aber ein Hauch von undurchsichtigem Algorithmen-Zauber bleibt naturgemäß immer übrig und die präsentierten Fragen decken vermutlich auch nie alle Wahlprogramme ab. Als jemand, der offen dazu steht, dass ihm viele Dinge egal sind, wurde ich auf wahlkabine.at auch immer direkt gewarnt, dass das Ergebnis mit der von mir gewählten Gewichtung nicht sehr aussagekräftig ist.
Man sollte in diesen Tools unbedingt ein wenig nachlesen, wie die wahlwerbenden Gruppen ihre Standpunkte begründen. Während viele nur emotionsgeladene Floskeln um sich werfen, ist es mir tatsächlich schon passiert, dass mich eine Gruppe mit ihrer sachlichen und fachkompetenten Argumentation bei einem Thema zum Umdenken gebracht. Das hatte mich letztendlich auch davon überzeugt, diese Gruppe zu wählen.
Wie das schon andeutet, ist das Wahlprogramm allein bestenfalls die halbe Miete. Es bringt herzlich wenig, Leute zu wählen, die irgendwelche sympathischen Forderungen herumposaunen, aber keinerlei Kompetenz haben, um diese auch umzusetzen. Worte sind bekanntlich billig und Politiker in der Regel nicht gerade bekannt dafür, ihre Wahlversprechen auch einzuhalten.
Es muss nicht einmal eine 180-Grad-Wende eingelegt werden, um Wähler gewaltig zu enttäuschen. Es reicht schon, dem Wahlprogramm treu zu bleiben, aber die falschen Schwerpunkte setzen. Nicht jeder Naturfreund ist auch ein Immigrationsfreund und nicht jeder Wirtschaftsfreund ist auch ein Religionsfreund; aber oft hat man nur solche willkürlichen Gesamtpakete zur Auswahl und muss es dann zähneknirschend hinnehmen, wenn primär das umgesetzt wird, was man eigentlich nur als Kollateralschaden mitgewählt hatte.
Gerade bei Gruppen, die nicht erst frisch aus dem Ei geschlüpft sind, lohnt sich in dieser Hinsicht auch ein kritischer Blick in die Vergangenheit. Was nutzen die schönsten Forderungen in einem Parteiprogramm, wenn die dort schon seit 50 Jahren stehen und trotz unzähliger Gelegenheiten nach wie vor unerfüllt sind?
Eigentlich müssten wir uns auch mit jeder einzelnen Person befassen, die wir durch unsere Wahl in ein Amt hieven könnten – insbesondere deshalb, weil wir üblicherweise nicht direkt Parteien, sondern sogenannte Listen wählen, was dazu führt, dass Politiker auch dann im Amt bleiben, wenn sie nach der Wahl ihre Parteizugehörigkeit wechseln und sich plötzlich für ein anderes Parteiprogramm einsetzen. In Österreich konnte durch solche Übertritte etwa 2012 das Team Stronach direkt ins Parlament einziehen, ohne jemals von irgendjemandem gewählt worden zu sein.
Neben all den Optionen, die man zur Auswahl hat, sollte man letztendlich also auch noch ein gutes Verständnis für die jeweiligen politischen Strukturen haben. Nach politischen Fernsehdiskussionen wird oft von einigen Seiten kritisiert, dass die diskutierten Themen vollkommen irrelevant waren, weil die entsprechenden Ämter gar nicht für diese Themen zuständig sind. Darauf basierend eine Wahl zu treffen ist dann in etwa so sinnvoll als würde man einen Klassensprecher am Gymnasium wegen seiner Meinung zum Erbschaftsrecht wählen.
Idealerweise sollte man also für eine faire und fundierte Entscheidung sämtliche Wahlprogramme – inklusive Begründungen –, sämtliche historische Daten, sämtliche Personen und sämtliche politische Strukturen und Zuständigkeiten kennen.
Einfach wählen … oder auch nicht
Dass man nicht alles wissen kann, was für eine ideale Entscheidung notwendig wäre, liegt auf der Hand. Irgendwo muss man Abstriche machen. Die Frage ist: Wo soll man ansetzen? Ist es nicht wesentlich besser, nur von Zeit zu Zeit eine gut informierte Wahl zu treffen, als keine Gelegenheit auszulassen, um aus dem Bauch heraus zu entscheiden?
Viele überzeugte Dauerwähler tun sich ja auch nur deshalb so leicht, weil sie in einem politisch einseitigen Umfeld sozialisiert worden sind. Die wählen einfach das, was in ihrem engsten Kreis schon immer alle gewählt haben.
Gerade die engagierteren unter diesen Stammwählern sind es auch, die mir gerne mit dem sinngemäßen Spruch kommen: »Es ist egal, was du wählst; Hauptsache du wählst.« Natürlich ist es denen in Wahrheit keineswegs egal. Wen oder was sie für unwählbar halten, kommunizieren sie bei etlichen anderen Gelegenheiten unmissverständlich. Aber da ich zu ihrem Umfeld gehöre, gehen sie offenkundig davon aus, dass wir jedenfalls dieselben Feinde haben.
Als jemand, der als Kind erst einmal recht unpolitisch aufgewachsen ist und erst später politischen Input aus ganz unterschiedlichen Richtungen erhalten hat, dürfte ich nach dieser Logik aber überhaupt niemanden wählen. Jede Entscheidung würde irgendjemandem in meinem Umfeld gegen den Strich gehen.
Meine alternative Aufforderung lautet: Gehe nicht wählen! Wer eine fundierte Meinung hat, wird in dieser Hinsicht ohnehin nicht auf mich hören, aber wer keine hat, der leistet mit seiner Abstimmung auch keinen konstruktiven Beitrag und kann am Wahltag daher genauso gut zu Hause bleiben. Peter Pan und Mary Poppins stehen ohnehin nicht am Stimmzettel.
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Kommentare
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Bisherige Kommentare
Joni Bloggt
Ich könnte schon viele Jahre zur Wahl gehen und habe es bisher noch nicht getan langsam beginne ich mich dafür zu interessieren deshalb beobachte ich das alles im moment und nehme mir vor bei der nächsten Bundestagswahl die Möglichkeit der Brief Wahl zu nutzen vorausgesetzt ich weiß was ich wählen möchte viele Grüße von joni https://joni-bloggt.blogspot.com
Michael Treml (Seitenbetreiber)
Antwort an Joni Bloggt:
So ähnlich ging es mir damals nach der Schule auch. Ohne die schulischen Pflichtwahlen war ich erst einmal ein paar Jahre komplett abstinent. Mit 25 hatte ich dann ein Studium begonnen und als plötzlich politische Diskussionen über Studiengebühren aufkamen, wurde mir erstmals bewusst, dass mich einige politische Dinge persönlich betreffen. Daraufhin hatte ich mich nach und nach immer mehr informiert und dann auch angefangen, zumindest bei »großen« Wahlen mitzustimmen.
Tony T
Seh ich auch so. Und ich hoffe doch sehr, dass Balu dann Schulsprecher geworden ist!
Michael Treml (Seitenbetreiber)
Antwort an Tony T:
Soweit ich mich erinnere, ist es letztendlich doch jemand anderer geworden. Ich glaube gar, dass ich in meiner gesamten Schulzeit ein geschicktes Händchen dafür hatte, ausnahmslos immer für die letztendlichen Wahlverlierer zu stimmen; aber da mich die Wahlen nie sonderlich interessiert hatten, kann ich das auch falsch in Erinnerung haben.