Muss gutes Design innovativ sein?

In den zehn Thesen für gutes Design, die vom bekannten Industriedesigner Dieter Rams aufgestellt wurden, steht an erster Stelle: »Gutes Design ist innovativ«. Aber ist das wirklich nötig?

Skizze einer armbrustähnlichen Vorrichtung mit etwa sieben Metern Länge.
Ein Design von Leonardo da Vinci. Müssen alle Designer so innovativ sein, wie man es da Vinci nachsagt? (Bildquelle: Codice Atlantico, gemeinfrei)

Nach einigen Jahren, die ich mich im Startup-Umfeld bewegt habe, gibt es einige Dinge, die ich so oft gehört habe, dass sie für mich jede Bedeutung verloren haben. Eines dieser Dinge ist das Wort »innovativ«. 400-Dollar-Maschinen, die Saftbeutel nicht besser auspressen als eine menschliche Hand, sind innovativ. WLAN-Wasserkocher, die man elf Stunden lang einrichten und debuggen muss, bis sie Wasser kochen, sind innovativ.

Neulich stieß ich dann auf einen kurzen Artikel über Dieter Rams’ zehn Thesen für gutes Design und dort stand gleich an der ersten Stelle: »Gutes Design ist innovativ«. Da ging mir erst einmal reflexartig das Wort »Bullshit« durch den Kopf.

Allerdings ist Dieter Rams alles Andere als ein Unbekannter. Er ist vor allem bekannt für seine Arbeiten an Elektrogeräten für Braun, die später auch eine große Inspiration für Apple waren. Auch klingen die restlichen seiner zehn Thesen grundvernünftig – sie beziehen sich unter Anderem auf Brauchbarkeit, Verständlichkeit und Unaufdringlichkeit. Insofern ist es doch einen genaueren Blick wert, was es mit der ominösen ersten These auf sich hat.

Innovation als Erneuerung

»Innovativ« kommt vom lateinischen Wort »innovare«, das im Deutschen mit »erneuern« übersetzt wird. Auch mein altes Lexikon definiert Innovation über Erneuerung:

»Innovation, die, Erneuerung, Neuerung; Einführung neuer techn. oder sozialer Elemente in eine Kultur; Erzeugung und Einführung neuer Produkte, Produktionsmethoden, Organisationsformen in der Wirtschaft.« (Der Brockhaus in einem Band, 6. Auflage, 1994)

In dieser Bedeutung wirft der Begriff »innovativ« im Zusammenhang mit Design aber mehr Fragen auf als er beantwortet.

Wenn ich nichts Neues mache, sondern einfach nur von jemand anderem kopiere, ist es klar, dass ich kein guter Designer bin. Aber das war nicht das Thema; es ging nicht um Designer oder Designprozesse, sondern um die resultierenden Designs. Das wird auch klar, wenn man sich Rams’ andere Thesen ansieht. Dort heißt es unter anderem etwa »gutes Design ist ästhetisch« und damit ist garantiert nicht gemeint, dass man als Designer bei der Arbeit einen Maßanzug tragen und jeden Handgriff zu einem Ballett von Tschaikowski choreographieren muss.

Wenn man diese Definition nun auf das Endprodukt anwendet, stellt sich die Frage: Inwiefern kann ein Design schlecht sein, wenn man ein gutes eins zu eins kopiert? Im Endeffekt sind schließlich beide identisch.

Zusätzlich muss man sich bei allem, was das Wort »neu« enthält, die Frage stellen: Wie lange ist diese Neuheit gültig? Hat das iPhone vom letzten Jahr plötzlich kein gutes Design mehr, weil dieses Jahr ein noch neueres Modell erschienen ist?

Oder geht es nur darum, dass ein Produkt zum Zeitpunkt der Einführung eine Erneuerung gegenüber dem Status quo war? Dann stellt sich die Frage, ob es überhaupt irgendetwas gibt, worauf das nicht zutrifft. Schließlich war jedes Design irgendwann einmal neu.

Wählscheibentelefon.
Auch das Wählscheibentelefon war einmal innovativ. Ab wann war es das nicht mehr? (Bildquelle: Ellinor Algin / Swedish National Museum of Science and Technology via Wikipedia, CC BY 4.0, Bild verkleinert und komprimiert)

Innovation als Verbesserung

Einige andere Quellen, darunter das Störig Fremdwörterbuch von 1990 und »Bertelsmann: Die neue deutsche Rechtschreibung« von 1996 definieren Innovation als »Erneuerung, Verbesserung an techn. Produkten oder Verfahren«. Hier kommt also noch eine präzisere Deutungsmöglichkeit hinzu: Gutes Design muss nicht nur neu im Sinne von »anders« sein, sondern es muss eine Verbesserung darstellen.

Das mag zwar eine etwas engere Einschränkung sein, ändert aber nur wenig an den bisherigen Problemen. Obendrein ist »Verbesserung« bei den meisten Produkten ein subjektiver Begriff, weil diese üblicherweise mehrere verschiedene Eigenschaften haben und eine Verbesserung in einem Aspekt nicht selten zu einer Verschlechterung in einem anderen Bereich führt.

So entwarf Dieter Rams etwa das »Regalsystem 606«, das aus Schienen an der Wand besteht, an denen man flexibel verschiedene Module wie Regalflächen und Schubladen anbringen kann. Jetzt ist es natürlich schwer zu eruieren, was es davor schon alles gab und inwiefern dieses System eine Verbesserung dazu darstellt. Aber zumindest im Vergleich mit ganz klassischen Regalen gibt es definitiv sowohl Vor- als auch Nachteile.

Regalflächen und Schubladen an einer Wand.
Regalsystem 606. Ob es wohl 605 Vorgängermodelle gab? (Bildquelle: Vitsoe in der Wikipedia auf Englisch, CC BY-SA 3.0)

Im Vergleich zu einzeln an die Wand montierten Regalflächen und Kästen ist es sicher einfacher, einzelne Module auszutauschen oder in der Höhe zu verstellen. Im Gegenzug ist man aber in der Breite auf das fixe Raster beschränkt, das die Schienen vorgeben. Wenn man seine Couch umstellt und deshalb das unterste Modul nur ein Stück nach rechts versetzen müsste, schaut man durch die Finger.

In dieser Hinsicht ist das Regalsystem nur eine Spur anpassungsfähiger als ein ganz altmodisches Standregal – im Vergleich zu diesem aber deutlich aufwändiger aufzustellen, unflexibler bezüglich Standort und wahrscheinlich auch weniger robust. Im Endeffekt vereint Rams’ Regalsystem also Vor- und Nachteile beider klassischer Regaltypen. Ein in jeder Hinsicht besseres Design gibt es eben nur sehr selten.

Innovation als Technikgläubigkeit

Obwohl Rams’ erste These oft nur als »gutes Design ist innovativ« zitiert wird, gibt es zu diesem knappen Satz auch eine offizielle Erläuterung:

»Die Möglichkeiten für Innovation sind längst nicht ausgeschöpft. Die technologische Entwicklung bietet immer wieder neue Ausgangspunkte für zukunftsfähige Gestaltungskonzepte, die den Gebrauchswert eines Produktes optimieren. Dabei entsteht innovatives Design stets im Zusammenschluss mit innovativer Technik und ist niemals Selbstzweck.« (Quelle: Vitsœ, Hersteller des »Regalsystem 606«)

Soweit, so schlecht. Selbstzweck ist definitiv etwas Sinnloses, allerdings wird die Sache nicht sinnvoller, wenn man sie an etwas koppelt, was ebenfalls nur Selbstzweck ist – und das ist bei Technik leider viel zu oft der Fall. Technik für sich allein hat keinen Zweck – dieser kommt erst zustande, wenn sie menschliche Probleme löst.

Ein brandaktuelles Beispiel dazu: smarte Schreibtischlampen, die sich per Smartphone-App steuern lassen. Warum baut man so etwas? Weil man’s kann! So etwas wird nicht entwickelt, weil es ein bisher ungelöstes Problem wäre, dass Leute mit dem Arm nicht bis zu der Lampe kommen, die direkt vor ihnen steht.

Auch sonst setzt man heute überall auf Digitalisierung, Cloud, Blockchain und was sonst gerade noch so für Techniksäue durchs Dorf getrieben werden, und fragt höchstens im Nachhinein, was es eigentlich dem Menschen bringt. Dabei sollte gerade der menschliche Bedarf im Vordergrund stehen, denn nur durch diesen entsteht ein Zweck, der eben nicht bloß Selbstzweck ist.

Auf aktuelle technologische Entwicklungen zu setzen, um den »Gebrauchswert eines Produktes« zu optimieren, sehe ich außerdem kritisch, weil ein Produkt – wie weiter oben schon geschrieben – immer mehrere Eigenschaften hat, die man nur selten alle gleichzeitig optimieren kann. Wenn man etwa ein rein mechanisches Gerät durch moderne Elektronik ersetzt, bedeutet das üblicherweise Abhängigkeit von Akkus oder Steckdosen, größere Empfindlichkeit gegen Feuchtigkeit, kürzere Produktlebenszeit und nicht selten wegen einem Übermaß sinnloser Funktionen eine deutlich umständlichere Handhabung.

Innovativ oder zeitlos?

Fairerweise muss man betonen, dass Rams’ Thesen aus den 70ern stammen. Das war noch vor meiner Zeit, aber mir ist bewusst, dass das Verhältnis zwischen Menschen und Technik damals noch ein ganz anderes war als heute. Insbesondere war Elektronik nicht so allgegenwärtig und auch der Begriff »Innovation« war vermutlich noch nicht so überstrapaziert wie er heute ist.

Obendrein kommt Dieter Rams ursprünglich aus den Fachbereichen Architektur und Tischlerei. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass sein Zugang zu dem Wort »Technik« ein eher bodenständiger war und er bei der Formulierung seiner Thesen nicht an eine Zukunft mit Smartphone-Apps für WLAN-Klobürsten gedacht hatte.

Nicht zuletzt lautet eine andere seiner Thesen auch »gutes Design ist langlebig«, was einen starken Widerspruch zu allen hier aufgezeigten Deutungen von »Innovation« erzeugt. Vitsœ erklärt diese These im Detail mit den folgenden Worten:

»Es vermeidet, modisch zu sein, und wirkt deshalb nie antiquiert. Im deutlichen Gegensatz zu kurzlebigem Mode-Design überdauert es auch in der heutigen Wegwerfgesellschaft lange Jahre.«

Rams’ Innovations-These lässt mich daher vermuten, dass es ihm im Kern eigentlich darum ging, dass ein Design im Kontext seiner Anwendung zeitgemäß sein muss. Ein Diktiergerät aus den 60ern würde zum Beispiel auf meinem modernen PC-Schreibtisch im Home-Office nicht viel Sinn ergeben, weil es nicht in meine großteils digitalen Abläufe passt.

In diesem Fall sollte meiner Meinung nach aber nicht die Innovation im Mittelpunkt stehen, sondern der Anwendungskontext, denn in manchen Anwendungsfällen ist Altbewährtes aus guten Gründen nicht nur alt, sondern auch bewährt. Ein Hammer hat kein schlechtes Design, nur weil er sich seit Jahrhunderten kaum verändert hat und er ist außerdem ein ausgezeichnetes Beispiel für Rams’ letzte Designthese, die man durch zwanghafte Innovation nur verschlechtern würde: »Gutes Design ist so wenig Design wie möglich.«

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