Wenn Warnfarben zu Tarnfarben werden

Als jemand, der in einem idyllischen Randbezirk Wiens wohnt, genieße ich schon seit Jahren das Grün vor meiner Haustür, in dem ich regelmäßig laufen gehe. Bei entsprechendem Wetter bin ich auch bei weitem nicht der einzige, der hier körperlicher Ertüchtigung frönt. So kommen mir nicht nur andere Läufer entgegen, sondern auch Wanderer, Spaziergänger, Leute, die Nordic Walking nicht korrekt verstanden haben und deshalb mit lautem Scharren Skistöcke hinter sich herziehen, … und allem voran Radfahrer.
Obwohl letztere – zumindest dort, wo es bergab geht – alle anderen in Sachen Tempo in den Schatten stellen, kann ich meine gefährlichen Begegnungen bisher glücklicherweise an einem einzelnen Finger abzählen. In diesem Fall tauchte so ein Abwärts-Sauser urplötzlich aus dem Nichts vor mir auf, während ich mich langsam bergauf quälte.
Der Weg vor mir war kerzengerade und es gab keinerlei Abzweigungen nach links oder rechts. Der Radler trug eine grellgelbe Jacke … und ich meine Kontaktlinsen; trotzdem sah ich ihn bis zum letzten Augenblick nicht auf mich zukommen.
Vielleicht war ich ein wenig geistesabwesend – das kommt zugegeben öfters mal vor –, aber es gab auch einen sachlichen Grund, wieso der gelbe Zweirad-Flitzer so lange unter meiner visuellen Wahrnehmungsschwelle geblieben war: Die lange Hecke hinter ihm blühte in ebenso grellem Gelb und der vermeintlich auffällige Farbton war damit zu einer Tarnfarbe geworden.
Das Drumherum macht den Unterschied
Wie man sieht, kommt es auf das Umfeld an, ob eine Farbe ins Auge sticht. Kulissen, die wir als »im Grünen« bezeichnen, sind besonders heimtückisch, weil sie je nach Jahreszeit oft ihrem Namen nicht gerecht werden. Die Hecke aus meiner Anekdote wäre nur im Sommer grün gewesen, im Frühling ist sie gelb, im Herbst rot und im Winter braun.
Typische Signalfarben wie Rot und Gelb funktionieren in einer grauen Beton- und einer weißen Winterlandschaft recht gut, aber in einem blühenden Frühlingsgarten oder einem bunten Herbstwald gehen sie gerne mal unter.

Starke Kontraste zwischen Vorder- und Hintergrund sind nicht nur für Leib und Leben relevant, sondern auch für ganz banale Alltagssituationen. Beim Laufen trage ich zwar immer meine Kontaktlinsen, im Badezimmer aber nicht – und hatte dadurch schon oft meine weißen Wattestäbchen nach der Benutzung am ebenso weißen Waschbeckenrand übersehen und vergessen. Stäbchen in knalligem Rot hätten mir hier als externes Gedächtnis signalisiert: »Achtung, hier ist noch etwas zu entsorgen!«

Dummerweise wurde nichts aus meinem damaligen Vorsatz, nur noch farbige Wattestäbchen zu kaufen, weil die oft bunten Plastik-Exemplare verboten wurden und ich bei meinem Stamm-Diskonter seitdem nur noch weiße bekomme. Alternativ hätte ich mir nur ein Waschbecken in anderer Farbe zulegen können, aber zum Glück schaffe ich es mittlerweile aus reiner Geisteskraft, mich an diese unsichtbaren Abfälle zu erinnern.
Die ideale Warnfarbe gibt es nicht
Auch abseits von Herbstwäldern sind die Klassiker Rot und Orange nicht unbedingt ideale Warnfarben, schließlich haben rund neun Prozent aller Männer eine Rot-Grün-Sehschwäche. Gelb dürfte trotz möglicher Konflikte im Frühling und im Herbst zumindest noch ein bisschen zuverlässiger sein.

Die Wirksamkeit anderer Farben ist auch vom jeweiligen Kontext abhängig. Mit Grün ist man im Sommerwald gut versteckt, mit Blau vor einem strahlenden Himmel – und allem, worin sich dieser spiegelt –, mit Weiß im verschneiten Gebirge, mit Grau im unverschneiten Gebirge und wer auf die Idee kommt, Schwarz als Warnfarbe zu verwenden, dürfte aus einem Paralleluniversum stammen, in dem es keine Schatten gibt.
Am zuverlässigsten wäre wahrscheinlich noch ein kräftiges Pink. Damit wäre man schlimmstenfalls in bestimmten Blumenwiesen oder auf einer Barbie-Messe unsichtbar.
Wenn man tatsächlich vor einer Gefahr warnen und nicht bloß auf vergessene Wattestäbchen hinweisen will, kommt dann aber auch noch die Schwierigkeit dazu, dass wir mit unterschiedlichen Farben üblicherweise unterschiedliche Dinge assoziieren. Rot und Gelb erinnern gerne an giftige Fliegenpilze und Wespen, Pink aber nur an duftende Blümchen und Püppchen. Ein Mann in einer pinken Weste würde zwar auffallen, aber die einzige Warnung, die er intuitiv ausstrahlen würde, wäre: »Achtung, Blumenhändler!«
Farbtöne: Es kann nicht nur einen geben
Wenn einzelne Farben je nach Umgebung ihre Signalwirkung verlieren können, ist die Kombination von mehreren Farben ein möglicher Ausweg.
Unsere genormten Verkehrsschilder für Warnungen sind wahrscheinlich aus gutem Grund nicht bloß rot, sondern rot-weiß-schwarz. Das ist eine Kombination, die man in kaum einer Umgebung vorfindet.
Sogenannte Warnfarben in der Natur sind in aller Regel ja auch vielmehr Warnmuster. Fliegenpilze sind nicht bloß rot, sondern rot-weiß.

Äpfel, Kirschen, Erdbeeren und viele andere Früchte, die einheitlich rot sind, bekommen uns sogar sehr gut. Die nutzen ihre Farbe wahrscheinlich bloß, damit wir sie im Grünen leichter finden, essen und gemeinsam mit menschlichem Naturdünger wieder ausscheiden können. So können die enthaltenen Samen den Kreislauf des Lebens fortführen – theoretisch zumindest, denn dass wir Toiletten und Kläranlagen erfinden, hatte die Natur natürlich nicht vorgesehen …
Beliebige Farben miteinander zu kombinieren, ist allerdings auch kein Patentrezept, um eine Warnbotschaft auszusenden. Camouflage-Muster machen das schließlich auch und bezwecken bekanntlich das exakte Gegenteil.

Forschungsergebnisse zeigen außerdem, dass Warn- und Tarnfarben in der Natur mitunter gar nicht so klar voneinander abzugrenzen sind. Das gelb-schwarze Muster eines Pfeilgiftfrosches gilt zwar als klassisches Warnsignal, verschmilzt aus der Ferne betrachtet aber zu einem unscheinbaren Farbton, der sich in die Umgebung einfügt und vor Fressfeinden schützt.
Ich habe kein fotografisches Gedächtnis. Vielleicht war also der Radfahrer, der mir seinerzeit entgegen gekommen ist, auch so ein gemusterter Pfeilgiftfrosch. Die gelbe Hecke hinter ihm war ja sicher keine einheitlich gelbe Fläche und ein paar dunkle Elemente auf seiner gelben Jacke hätten ihn damit sicher noch besser mit der Umgebung verschmelzen lassen.
Kommen wir wieder auf die Farbe Pink zurück, dann lässt sich damit nah und fern ein auffälliges Zeichen setzen, denn Pink setzt sich aus den Primärfarben Rot und Blau zusammen. Konkreter ausgedrückt: Ein Muster, das zu 75 Prozent aus Rot und 25 Prozent aus Blau besteht, ist aus der Nähe auffällig, weil es eine seltene Kombination zweier Kontrastfarben ist, und aus der Ferne betrachtet verschmelzen diese Farben zu einem immer noch auffälligem Pink.

An unseren Farb-Assoziationen ändert das freilich nichts. So wird der pinke Blumenhändler aus der Nähe betrachtet bestenfalls zum Harlekin, denn wer sonst trägt Rot und Blau?
Aber Kontraste sind in jedem Fall essenziell – und zwar nicht nur in der Form von Farbtönen, sondern insbesondere in der Gestalt von Helligkeitsunterschieden. Farben können wir nämlich nur im Zentrum unseres Blickfeldes wirklich gut voneinander unterscheiden, Helligkeitsunterschiede dagegen auch in der Peripherie.
Der größtmögliche Helligkeitsunterschied ist und bleibt jener zwischen Schwarz und Weiß. Das sind für sich allein betrachtet nicht gerade die auffälligsten Farben, aber in Kombination mit einem roten Rahmen machen Verkehrs-Warnschilder da insgesamt einen ganz guten Job.
Farben, Formen, Funkelflächen
Die Bedeutung von Kontrasten geht auch über die reine Farb-Thematik hinaus. Kontraste erzeugen Formen und die konkrete Gestalt dieser Formen kann ebenso beeinflussen, ob etwas mit der Umgebung verschmilzt oder heraussticht. Die dreieckige Form von Warnschildern ist da sicher ein weiterer Pluspunkt, sofern man nicht gerade irgendwo lebt, wo alle Gebäude in Pyramidenform errichtet werden.
Vor allem in natürlichen Umgebungen sind großflächige, eckige Formen wesentlich auffälliger als kleinteilige, organische. Deshalb folgen Camouflage-Muster nur letzterem Schema … sofern man die aus der Mode gekommene Dazzle-Camouflage außer Acht lässt – diese verfolgte nämlich nicht das Ziel, sich komplett zu verstecken, sondern seine Form und Größe durch verwirrende Muster schwer erfassbar zu machen.

Neben einfachen Farben und Mustern beinhalten Warnwesten, Verkehrsschilder und andere Warnhinweise oft auch reflektierende, leuchtende oder blinkende Elemente, was die Aufmerksamkeit natürlich noch einmal gewaltig erhöht. Wer als Radfahrer sicher gesehen werden will, sollte sich also am besten eine Lichterkette um den Hals hängen. Spielt diese auch noch »Jingle Bells«, gibt es obendrein Extra-Punkte für die akustische Warnung.
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