Zum Vergessen schön

Schönheit gilt als erstrebenswert, Vergessen aber nicht. Zu dumm, dass Schönheit auch dazu führen kann, vergessen zu werden.

Gesicht einer jungen Frau mit makelloser Haut und vollen Lippen.
Keine Muttermale, keine Narben, keine Segelohren, … absolut nichts, was irgendwie einprägsam wäre. Aber gerade deshalb gilt dieses Gesicht als schön. (Bildquelle: Anatoly Repin auf Adobe Stock, Bild beschnitten)

Schönheit bringt Vorzüge mit sich – so bekommen schöne Menschen üblicherweise mehr Aufmerksamkeit, werden positiver wahrgenommen und daher auch besser beurteilt. Kein Wunder also, dass die meisten lieber schön als hässlich wären.

Wer in der Geisterbahn schon einmal mit dem Inventar verwechselt worden ist, kann sich aber trösten, denn Schönheit hat auch ihre Schattenseiten. Aufmerksamkeit zu bekommen, ist nicht immer und überall erstrebenswert – davon können nicht nur Geheimagenten ein Lied singen.

Im scheinbaren Widerspruch zur erhöhten Aufmerksamkeit könnte Schönheit aber auch dazu führen, vergessen zu werden. Dieser Artikel beleuchtet, wieso das so ist.

Im Einzelfall relativ

Vorab sollte man den Elefanten im Raum adressieren, dass es bekanntlich immer wieder heißt: »Schönheit ist relativ.« Und das lässt sich auch nur schwer bestreiten. Selbst in vermeintlich eindeutigen Fällen driften die Meinungen gerne meilenweit auseinander.

Vor wenigen Jahren meinte mal irgendjemand, dass Ryan Gosling objektiv schöner sei als Donald Trump. Jetzt ist Letztgenannter zugegeben auch für mich nicht gerade ein Schönheitsidol, aber da mir die Vergleichsperson gar kein Begriff war, musste ich erst einmal eine Suchmaschine bemühen, um mir im wahrsten Sinn des Wortes ein Bild zu machen. Letztendlich konnte ich dem angeblich so objektiven Vergleich nicht zustimmen.

Allem voran wurde hier ein Apfel mit einer Birne – oder besser: eine Weintraube mit einer Rosine – verglichen: ein rund 40-Jähriger mit einem Über-70-Jährigen. Mein persönliches Schönheitsempfinden ist schon mal insofern relativierend, dass ich je nach Altersklasse unterschiedliche Maßstäbe anlege. Falten an den richtigen Stellen können einen reiferen Herren durchaus attraktiv machen, während die gleichen Falten einen jungen Mann bestenfalls nach Drogen-Junkie im Endstadium aussehen lassen.

Sean Connery mit weißem Bart, Halbglatze und faltiger Stirn.
Sean Connery wurde 1989 zum »Sexiest Man Alive« gekürt – im Alter von 59 Jahren und einem reifen Aussehen, mit dem man ihn auch locker für einen 70-Jährigen halten könnte. (Bildquelle: Indiana Jones und der letzte Kreuzzug)

Um Ryan Gosling und Donald Trump auch nur einigermaßen fair vergleichen zu können, muss ich mir daher Fotos ansehen, auf denen beide ungefähr im gleichen Alter sind. Da findet man im Web vereinzelt durchaus welche, auf denen Trump keineswegs unattraktiv aussieht.

Im Gegenzug kann ich nur schwer nachvollziehen, warum ausgerechnet Gosling als Paradebeispiel für einen schönen Mann genannt wurde. Ja, er ist offenbar gut in Form, hat ein kräftiges Kinn und volles Haar, aber all das habe ich höchstens auf den zweiten Blick gesehen. Im ersten Moment haben seine kleinen, eng stehenden, asymmetrischen Augen meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Auch seine schmalen Lippen sind nicht unbedingt das, was ich als »schön« bezeichnen würde, und seine Ohren kommen mir auf manchen Bildern auch irgendwie seltsam vor.

Trump ist von der Natur zumindest mit einem symmetrischen Gesicht und vollen Lippen gesegnet. Dass er optisch trotzdem als Witzfigur wahrgenommen wird, liegt vielmehr an persönlichen Mode-Entscheidungen wie seiner Ich-bin-doch-gar-nicht-kahl-Frisur und was auch immer das ist, was er mit seiner Haut angestellt hat. Vor ein paar Jahren ist eine Fotomontage durch das Internet gegeistert, die aufzeigt, dass er mit Bart und Vollglatze durchaus auch im höheren Alter noch etwas hermachen könnte. Ein paar Spaßvögel hatten sogar eine Petition unterzeichnet, um ihn von diesem Stilwechsel zu überzeugen.

Bei der Bewertung von Schönheit stellt sich also letztendlich die Frage: Wie gewichtet man jeweils Mode, Fitness und naturgegebene Eigenschaften? Wie wichtig sind Augen, Lippen, Kinn? Wie wichtig sind Haare, Bärte, Augenbrauen? Wie wichtig sind Hemden, Hüte und Krawatten?

Und selbst unabhängig von der Gewichtung gibt es zu jedem einzelnen dieser Aspekte persönliche Präferenzen. Ich selbst konnte zum Beispiel noch nie den Hype um blaue Augen nachvollziehen. Für mich wirken Augen umso kälter und lebloser, je heller sie sind. Das passt aus meiner Sicht nur zu ganz bestimmten Charakteren, nämlich zu extra-harten Kerlen – oder Kerlinnen.

Dunkelbraune, fast schwarze Augen.
Mit hellblauen Augen könnte ich wie ein Wolf auf der Jagd ausschauen, aber stattdessen habe ich tiefdunkle Kulleraugen wie ein unschuldiges Rehlein.

Modische Entscheidungen zeigen besonders deutlich, wie sehr sich individuelle Schönheitsideale unterscheiden. Wir haben uns sicher alle schon einmal gefragt, warum irgendjemand, den wir sehen, bewusst Geld in Kleidung, Schminke oder plastische Chirurgie investiert hat, die einen im Endeffekt bloß hässlicher macht.

Im Nicht-Einzelfall durchschnittlich?

Solche höchstpersönlichen Schönheitsideale sind zwar allgegenwärtig, in der Praxis aber oftmals doch nur von untergeordneter Bedeutung. Will man etwa die Schönheit einer Person für Werbezwecke einsetzen, ist es nicht zielführend, nach seinen persönlichen Fetischen zu casten – es sei denn, man hat eine sehr spezielle Zielgruppe. In der Regel hat man das Ziel, möglichst viele Menschen zu erreichen, daher braucht man auch einen Schönheitsbegriff, der von möglichst vielen Menschen geteilt wird.

Extreme werden dadurch großteils ausgefiltert. Stattdessen werden im Großen und Ganzen Menschen für attraktiv befunden, die im wahrsten Wortsinn durchschnittlich aussehen. Eine vielzitierte Studie von Langlois und Roggman aus dem Jahr 1990 zeigte etwa, dass Fotos von realen Gesichtern meistens als weniger attraktiv wahrgenommen werden als ein künstlich erstelltes Gesicht, das dem Durchschnitt ebendieser realen Fotos entspricht.

Wie etwas jüngere Studien nachgewiesen haben, wird das durchschnittlichste aller Gesichter zwar nicht zwangsläufig als das schönste wahrgenommen, es ist aber zumindest unter den bestbewerteten und die noch attraktiveren Gesichter unterscheiden sich weit weniger von diesem Durchschnitt als jene, die als nur wenig attraktiv eingestuft werden.

Bei Äußerlichkeiten, auf die man selbst Einfluss nehmen kann, gibt es offenbar ebenso eine Tendenz zur Mitte. Schließlich hat es im Lauf der Geschichte unglaublich vielfältige Mode-Erscheinungen gegeben, aber statt sich aus diesem Fundus zu bedienen, trägt man in aller Regel etwas, womit man möglichst nicht auffällt.

Renaissance-Gemälde mit vielen Personen und bunter vielfältiger Kleidung.
Mode, die abseits von Kostümfesten kaum noch gebräuchlich ist, aber warum eigentlich? (Bildquelle: Ausschnitt aus »Die Schule von Athen« von Raffael, Public Domain)

Es mag unter den Menschen zwar auch sogenannte Paradiesvögel geben, die sich bunt und auffällig anziehen, aber die sind in der Regel Teil einer Sub-Kultur, in der eben so eine Erscheinung das gängige Schönheitsideal ist. Auf der Regenbogenparade ist ein bunter Vogel auch nur einer unter vielen. Wo immer es irgendwelche gemeinsamen Ideale gibt, gleichen sich die Menschen einander an.

Schöne Unscheinbarkeit

Durchschnittlichkeit und Angepasstheit klingen weitaus weniger erstrebenswert als Schönheit, tragen aber sicher auch dazu bei, dass schöne Menschen erfolgreich sind. Für Werbung werden bekanntlich schöne Leute gecastet, weil Werber ihre Produkte gerne mit Schönem in Verbindung gebracht wissen. Aber wahrscheinlich ist die Schönheit in diesen Fällen mindestens ebenso wichtig, um nicht vom Wesentlichen, nämlich dem Produkt, abzulenken.

Natürlich könnte man seine Zahncreme auch von einem 200-Kilo-Mann mit Akne und grünem Irokesen-Haarschnitt bewerben lassen, aber es ist fraghaft, ob dann ausgerechnet die Zahncreme in Erinnerung bleibt. Zahnpasta sehen alle von uns – hoffentlich – zwei Mal täglich; daneben zieht alles abseits vom alltäglichen Mittelmaß die Aufmerksamkeit auf sich wie ein Clown auf einer Beerdigung.

Aus diesem Grund sehe ich auch gut gemeinte Bestrebungen kritisch, überall möglichst viel Diversität abzubilden. In der Regel lenkt das einfach nur vom wahren Zweck der Sache ab und ist daher kontraproduktiv.

Haben wir uns schon einmal gesehen?

So vorteilhaft ein Mangel an Auffälligkeiten für einige Branchen auch sein mag, so nachteilig ist er für den Wiedererkennungswert. Ich kann mich zwar vage erinnern, in Hollywood-Filmen schon viele schöne Menschen gesehen zu haben, aber ich würde kaum einen davon auf der Straße erkennen.

Die ersten Schauspieler, die mir in den Sinn kommen, wenn ich an Hollywood denke, sind Charaktere wie Danny DeVito und Arnold Schwarzenegger, die körperlich alles Andere als den Durchschnitt repräsentieren. Bei Schwarzenegger kann man natürlich argumentieren, dass er schon wieder in eine eigene Kategorie von Schönheitsideal fällt, aber er hat einerseits den Vorteil, ein Vorreiter für dieses Ideal gewesen zu sein und daher nicht viel Konkurrenz gehabt zu haben, und außerdem ist mir an ihm auch sein Zahnspalt in Erinnerung geblieben, den er in jungen Jahren noch hatte.

Arnold Schwarzeneggers junges Gesicht mit halboffenem Mund und deutlichem Spalt zwischen den zwei oberen Schneidezähnen.
Kein typisches Hollywood-Lächeln, aber gerade deshalb ikonisch. (Bildquelle: Mary Frampton, Los Angeles Times, CC BY 4.0, Bild beschnitten)

Insofern hat auch Ryan Gosling mit seinen engen, schiefen Augen durchaus einen Vorteil. Da ich keinerlei Bezug zu diesem Menschen habe, hätte ich ohne diese Auffälligkeit längst vergessen, dass er überhaupt existiert.

Mode gegen Wiedererkennbarkeit

Wenn Gesicht und Körper von Natur aus nicht sehr einprägsam sind, kann man sich immerhin noch mit seinen modischen Entscheidungen einen gewissen Wiedererkennungswert erarbeiten. Ohne orange Haut und die Haarskulptur auf seinem Kopf sähe auch Trump relativ unscheinbar aus.

Leider tendieren aber insbesondere Frauen, die Wert auf Schönheit legen, zu einem Modebewusstsein, das durch ständige Veränderung geprägt ist – sei es durch wechselnde Modetrends oder den Glauben, dass es unschick ist, zwei Mal in seinem Leben das gleiche Outfit zu tragen. Damit erschweren sie es einem zusätzlich, sie wiederzuerkennen.

Als ich früher Vollzeit in einem Büro mit zwei Kolleginnen beschäftigt war, rief einmal ein Außendienst-Mitarbeiter an, den ich an eine der beiden weiterleiten musste. »Ist das die Blonde oder die Braunhaarige?«, fragte er mich. Meine Antwort: »Das kommt darauf an, wann Sie die beiden zum letzten Mal gesehen haben.«

Die Mischung macht’s

Für die meisten von uns ist es wahrscheinlich am vorteilhaftesten, überwiegend schöner Durchschnitt zu sein, aber doch auch die eine oder andere prägnante Abweichung zu haben. So macht man einen guten Eindruck, der auch in Erinnerung bleibt.

Ideale Abweichungen zu finden, ist allerdings eine Gratwanderung. Man müsste einerseits isolierte Studien zu allen erdenklichen Schönheitsmerkmalen durchführen, andererseits aber auch jedes mögliche Zusammenspiel untersuchen. Ab welcher Größe sind etwa Ohren zu groß? Und wie ändert sich die Wahrnehmung im Zusammenspiel mit Kopfform und Frisur?

Pixelgrafik, die mehrere Abbildungen von Marge Simpson, einer Zeichentrickfigur mit extrem hoher Turmfrisur, zeigt. Auf ein paar Bildern sieht man lange Hasenohren unter ihren Haaren.
Marge aus der Zeichentrick-Serie »Die Simpsons« hätte unter ihrer prägnanten Frisur ursprünglich Hasenohren haben sollen, aber abgesehen von einem Videospiel aus dem Jahr 1991 wurde diese Idee nie aufgegriffen. Ihre skurrile Frisur wäre in diesem Fall definitiv ein Zugewinn an Schönheit gewesen. (Bildquelle: Einzelbilder aus dem Arcade-Spiel »The Simpsons«; Konami, Matt Groening; geteilt von The Spriters Resource)

Als Faustformel kann man sich wahrscheinlich nur merken: Wenn man schon von Natur aus Ohren wie Dumbo und eine Nase wie Pinocchio hat, ist es wahrscheinlich nicht vorteilhaft, sich auch noch wie Peter Pan anzuziehen.

Modische Variationen dürfen durchaus sein, aber wenn man wiedererkannt werden will, sollte man es besser nicht übertreiben. Wer heute wie Peter Pan und morgen wie Käpt’n Hook aussieht, darf sich nicht wundern, wenn einen die eigene Familie vor der verschlossenen Tür stehen lässt. Deutlich subtiler war die frühere deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Sie war definitiv nicht dafür bekannt, sich modisch ständig neu zu erfinden, aber die Outfits, die man mit ihr in Verbindung bringt, hatte sie in allen nur erdenklichen Farben und damit hat sie es sogar zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht.

Nachdem Schönheit nicht dem Menschen vorbehalten ist, lassen sich all diese Überlegungen natürlich auch auf andere Dinge übertragen. So sind etwa auch hässliche Websites einprägsamer als glattgebügelte Durchschnittskost und wer im Monatstakt sein Lokal komplett umgestaltet, darf sich nicht über das Ausbleiben von Stammkundschaft wundern.

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