Software-Oberflächen: Nicht alles im Abseits ist unwichtig
Mit dem Siegeszug von mickrigen Wurstfinger-Wisch-Computern, auch bekannt als Smartphones, scheint oft in Vergessenheit zu geraten, wie man gute Software für Maus und Tastatur gestaltet. So muss mein hochpräziser Mauszeiger nutzlose Kilometer zwischen überdimensionierten Steuerelementen zurücklegen und ebenso aufgeblasene Inhalte fordern olympische Scroll-Orgien von meinem Mittelfinger, den ich dazwischen gerne einmal vor dem Monitor in die Höhe strecken würde, um den Designern meine Meinung mitzuteilen.
Ganz im Gegensatz zu diesen touchscreen-optimierten Elementen ist die gesamt verfügbare Bildschirmfläche auf Smartphones lächerlich klein und es bleibt daher oft nichts Anderes übrig, als zu jedem Zeitpunkt nur das Notwendigste für die aktuelle Aufgabe anzuzeigen. Auch dieses Design-Schema wird gelegentlich auf Desktop-Computer übernommen … wo es so gut hin passt wie ein Pottwal in die Sahara, schließlich verfolgen Desktop-Betriebssysteme wie Microsoft Windows ein Konzept, das nicht gegensätzlicher sein könnte: Individuelle Fenster sind dazu da, um diverse Dinge zeitgleich nebeneinander sichtbar und benutzbar zu machen. Und dieses Konzept hat sich nicht umsonst bewährt.
Startmenü und sonst nichts
Das wahrscheinlich prominenteste Beispiel, das mit dem üblichen Desktop-Konzept bricht, hatte Microsoft Windows 8 seinen Nutzern beschert. Dort hielt man es plötzlich für eine gute Idee, das altbekannte Startmenü durch sogenannte Kacheln zu ersetzen, die den gesamten Bildschirm einnehmen.
Grundsätzlich könnte man ja argumentieren, dass mit maximaler Menü-Fläche wesentlich mehr Einträge ins Menü passen und man daher mittelfinger-schonend nicht erst ein halbe Meile durch irgendein Unter-Unter-Menü scrollen muss, um das gewünschte Programm zu finden. Aber offenbar waren die Designer früher Luftballon-Verkäufer und hatten es deshalb vorgezogen, die Menü-Einträge im gleichen Ausmaß aufzublasen wie das Menü selbst, sodass man im Gegenzug umso längere Mauswege zurückzulegen hatte und bei vielen Programmen immer noch durch mehrere Bildschirme scrollen musste. Zumindest die rund fünf Leute weltweit, die am PC einen Touchscreen als primäre Eingabemethode verwenden, wird das sicher gefreut haben, den Rest wohl weniger.
Ganz abgesehen davon versperrt so ein Vollbild-Menü die Sicht auf das, woran man gerade arbeitet. Wenn ich etwa in Microsoft Word einen Bericht schreibe und schnell mal die Taschenrechner-App öffnen will, um irgendwelche Zahlen nachzurechnen, erinnert mich bei einem herkömmlichen Menü die offene Word-Datei im Blickfeld – quasi als externes Gedächtnis – ständig daran, was gerade mein Ziel ist. Wenn die Datei aber komplett vom Menü verdeckt wird, muss ich mir merken, wonach ich gerade suche. Und jeder Menüpunkt vor dem Taschenrechner hat das Potenzial, mich auf andere Gedanken zu bringen.
In diesem Anschauungsbeispiel kann man sich vielleicht auch ohne Gedächtnisstütze noch relativ leicht merken, was man gerade vorhat. Wer aber an etwas Komplexerem arbeitet, hat gerne einmal fünf Programme mit dutzenden Tabs offen und muss sich dann im Menü daran erinnern, welches das sechste Programm ist, das derzeit noch nicht läuft.
Außerdem ist es nicht unüblich, sich für regelmäßig genutzte Programme Verknüpfungen in der Taskleiste oder am Desktop anzulegen. Wer dann tatsächlich mal das Startmenü öffnet, braucht also tendenziell ein Programm, das man nicht jeden Tag verwendet und daher erst nach ein wenig Stöbern findet.
Menüs, die das ganze Fenster an sich reißen
Das Windows-8-Startmenü war ein ebenso durchschlagender Erfolg wie Microsofts Smartphone-Betriebssystem mit demselben Kachel-Konzept, oder anders ausgedrückt: Beides wurde so rasch wieder eingestampft, dass es abseits sarkastischer Betrachtungen wie dieser hier kaum noch eine Erwähnung wert ist. In Microsoft Office hat sich aber etwas sehr Ähnliches bis heute erhalten. Dort wird zwar nie der gesamte Bildschirm eingenommen, aber wenn man auf »Datei« klickt, öffnet sich statt eines normalen Menüs eines, das immerhin das ganze Programmfenster vereinnahmt.
In diesem Menü befindet sich unter anderem die Funktion »Speichern unter«, mit der man der offenen Datei einen Namen geben kann. Um einen treffenden Dateinamen zu finden, ist es hier hilfreich, die Inhalte der Datei vor dem inneren Auge zu haben, denn vor dem äußeren Auge hat man sie in diesem Moment nicht mehr.
Dass sich dieses Menü in die restliche Office-Oberfläche generell so gut einfügt wie ein Ohr, das man jemanden in frankensteinscher Manier an den Ellenbogen genäht hat, passt gut in Microsofts Konzeptlosigkeit, die ich schon in einem früheren Artikel kritisiert hatte.
Unbenutzbares in Sicht
Immerhin eine Spur weniger einschränkend sind Interface-Elemente, die einem zwar einen Blick auf andere Dinge gewähren, aber keine Interaktion damit zulassen. Typisch dafür sind Fenster oder Meldungen, die alles um sich herum ausgrauen.
Das E-Mail-Programm Thunderbird macht das zum Beispiel im Adressbuch, wenn man einen Kontakt bearbeitet. Man sieht zwar neben dem Bearbeitungsformular nach wie vor seine Kontaktliste, kann darin aber weder scrollen noch irgendetwas anklicken. Wer etwa Firmendaten von einem Kontakt zu einem anderen kopieren will, möge das also bitte brav sequenziell machen: Kontakt 1 öffnen, Firmenname kopieren, Kontakt 1 schließen, Kontakt 2 öffnen, Firmenname einfügen, Kontakt 2 schließen, Kontakt 1 öffnen, Adresse kopieren, …
Auch soziale Netzwerke scheinen dieses Design-Schema zu lieben … oder einfach hirnlos voneinander abzukupfern. Egal, ob X/Twitter, Facebook, Instagram oder LinkedIn: Überall legt sich ein Formular über die ausgegraute Seite, wenn ich einen meiner meiner Blog-Artikel teilen will … und blockiert damit den Zugriff auf meine früher geteilten Artikel, sodass ich den neuen Beitrag nicht auf die älteren abstimmen kann.
Hier wäre selbst ein seitenfüllendes Formular nützlicher, solange zumindest das jeweilige Seitenmenü zugänglich bleibt. Damit könnte ich nämlich bequem meine alten Beiträge in einem neuen Tab öffnen, ohne das Formular schließen zu müssen.
Grundsätzlich kann ich auf diesen Plattformen zwar auch trotz dieser Blockade mit mehreren Tabs arbeiten – und tue das auch –, aber dazu muss ich entweder schon vorab daran denken, einen Link in einem neuen Reiter zu öffnen, oder einen vorerst leeren Reiter öffnen und die jeweilige Website dort nochmals manuell aufrufen. Dieser unnötige Mehraufwand für mich besteht nur deshalb, weil die Plattformen sich ebenfalls einen unnötigen Mehraufwand damit machen, den Zugriff auf das vorhandene und sichtbare Menü unnötigerweise zu blockieren.
Ohne Grau noch grauenhafter
Ausgrauen ist immerhin ein nützlicher Hinweis darauf, dass man – warum auch immer – nur schauen, aber nichts anfassen darf. Allerdings wird einem dieser Indikator – warum auch immer – nicht überall geboten. Insbesondere als Benutzer von mehreren Bildschirmen hatte ich mir schon öfters über ein vermeintlich »hängendes« Programm den Kopf zerbrochen, bis ich bemerkt hatte, dass es mir – warum auch immer – auf einem anderen Monitor eine Meldung anzeigt, die alles blockiert.
Wie man sieht, reiht sich hier ein Warum an das nächste. Ein unlogisches Programmverhalten bei mehreren Bildschirmen könnte genauso wie der Vollbild-Trend daher kommen, dass bei der Entwicklung fast nur an Schmalspur-Geräte mit kleinen Einzelmonitoren gedacht wird; aber Smartphones können kaum für das Ausgrauen und Blockieren Pate gestanden sein, schließlich gibt es auf solchen Zwerg-Geräten kaum genügend Bildschirm-Platz für derartige Spielereien.
Alles hat seinen Platz
Dinge um sich herum auszublenden oder zu blockieren, ist trotz aller Kritik nicht immer fehl am Platz. Vollbild-Menüs sind, wie schon angedeutet, ein notwendiges Übel auf kleinen Smartphone-Bildschirmen und Interface-Elemente, die alles andere blockieren, sind insbesondere dann sinnvoll, wenn ein Herumwursteln an den falschen Stellen zu Datenverlust oder anderen technischen Problemen führen könnte.
Insbesondere auf PCs sollten solche einschränkenden Design-Konzepte aber die absolute Ausnahme sein, denn auch wenn es für alles einen Platz gibt, gibt es auf solchen Systemen in der Regel auch genügend Platz für alles … und daher nur wenige Gründe, Dinge auszublenden oder unbrauchbar zu machen.
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