Warum es sinnvoll sein kann, das Rad neu zu erfinden

Die Neuerfindung des Rades ist der Inbegriff einer unnötigen Arbeit. Dabei kann es aber oft nicht schaden, etwas Etabliertes von Grund auf neu zu denken, denn manchmal kommt dabei etwas Besseres heraus als das, was wir bereits kennen.

Speichenrad an einem alten Holzkarren.
Zum Glück wurde das Rad schon ein paar Mal neu erfunden, sonst würden wir heute so etwas auf unsere Autos schrauben. (Originalbild: Fir0002/Flagstaffotos, CC BY-NC, Bild beschnitten)

Da grübelt und konstruiert man monatelang, verbringt schweißtreibende Tage in der Werkstatt und macht letztendlich die Erfindung seines Lebens: eine Vorrichtung zum energie-effizienten Transport von Ladegut. Doch dann die Ernüchterung: Man hat bloß das Rad neu erfunden.

Ja, so etwas kann schon passieren. In der Regel ist die Erfinderei aber doch etwas komplexer. Schon in einem früheren Artikel habe ich etwa aufgezeigt, dass Thomas Alva Edison entgegen seinem heutigen Ruf die Glühbirne eigentlich nur neu erfunden hatte. Sie existierte schon vorher, war vor seinem Zutun aber so ineffizent, dass sie kaum brauchbar war.

Kann es da nicht sein, dass das Rad, wie wir es heute kennen, auch nur die schlechte Variante einer viel besseren Sache ist? Es hat sich zwar in vielen Anwendungsfällen bewährt, aber das muss nicht bedeuten, dass das klassische Rad auch überall die beste Lösung darstellt. »Wenn man nur einen Hammer hat, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus«, lautet schließlich ein altes Sprichwort. Insofern ist es vielleicht gar nicht so absurd, das Rad neu zu erfinden.

Pyramidenbau ohne Räder

Das beste Beispiel, dass auch ohne Räder einiges möglich ist, liefern die alten Ägypter. Wie weitläufig bekannt ist, hatten sie nämlich die Pyramiden in Gizeh erbaut, ohne Räder benutzen.

Auf Wikipedia steht dazu geschrieben: »Bemerkenswert ist, dass beim Bau der Pyramiden keinerlei beräderte Fuhrwerke zum Einsatz kamen, obwohl die Ägypter das Rad zu dieser Zeit wahrscheinlich bereits kannten.« Für mich ist dagegen bemerkenswert, wie dieser Satz vor Augen führt, dass wir uns vieles ohne Räder gar nicht mehr vorstellen können. Wäre es nicht denkbar, dass genau das Gegenteil wahr ist? Konnten die Ägypter ihre Pyramiden vielleicht gerade deshalb bauen, weil sie eben nicht auf Räder fixiert waren?

Man muss sich vor Augen halten, dass der Bau der Pyramiden noch in die Steinzeit fällt – beziehungsweise in die sogenannte Kupferzeit, in der Metallverarbeitung gerade erst am Aufkommen war. Damalige Räder hatten weder Stahlachsen noch Gummireifen – das waren einfache Holzscheiben auf einer Holzachse. Die größten Steine, die in den Pyramiden verbaut wurden, waren rund 40 Tonnen schwer. Hätten primitive Radkonstruktionen da wirklich viel geholfen oder wäre denen nicht sofort die Achse gebrochen?

Ägypten war auch sicher nicht der passende Ort, um das einfach mal auszuprobieren, denn die Gegend war schon damals nicht gerade für üppige Wälder und Holzvorräte bekannt. Da wäre jede gebrochene Achse teuer gekommen.

Gängige Theorien gehen davon aus, dass die Ägypter stattdessen Schlitten und Walzen verwendet hatten. In beiden Fällen wurde die Rollreibung genutzt, die auch das Rad so effektiv macht:

  • Im Fall von Schlitten wurde feiner Sand als Gleitmittel genutzt, sodass die Sandkörner wie kleine Kügelchen zwischen Kufen und Untergrund rollten.
  • Im Fall von Walzen wurden runde Hölzer unter das Transportgut gelegt, die über den Boden rollten.
Zeichnung, die den Bau einer Pyramide zeigt. Ein Steinquader wird auf zwei runden Hölzern eine Rampe hochgezogen.
So stellt man sich in der Regel den Pyramidenbau vor. Mehrere Arbeiter ziehen einen Steinquader über eine Rampe hoch, während ein weiterer Arbeiter vorne immer wieder die runden Hölzer nachlegt, die hinter dem Quader herausrollen. (Bildquelle: Geschichtsbilder, J.C. Andrä, 1908, Public Domain, Bild beschnitten)

Diese Methoden klingen zumindest wesentlich robuster als Holzstäbe mit runden Scheiben an den Enden. Ganz ohne Nachteil waren sie aber natürlich auch nicht. Insbesondere musste man vor dem Transportgut ständig Gleitmittel oder Walzen nachlegen und soweit ich als Nicht-Physiker es verstehe, musste immer noch sehr viel mehr Reibung überwunden werden als bei der Anwendung von Rädern.

Die Ägypter waren mit ihrer Rad-Abstinenz übrigens nicht allein. Auch die Maya verwendeten keine Räder zum Transport, obwohl sie die Technologie an sich kannten. Wenn also auch sehr vieles in diesem Zusammenhang spekulativ sein mag, zeigt das zumindest, dass es nicht unbedingt einen Rad-Kult braucht, um zu einer technischen Hochkultur zu werden. Oder anders ausgedrückt: Räder sind (wahrscheinlich) überbewertet.

Auto ohne Räder

Jetzt ist der Bau der Pyramiden zugegeben schon ein paar Jährchen her und Räder haben sich seitdem weiterentwickelt. Beräderte Schwertransporte sind heute an der Tagesordnung. Die Ausstattung, die bei wirklich schweren Fällen zum Einsatz kommt, sieht steinzeitlichen Holzrädern aber kaum noch ähnlich. Nicht selten sind das mehrfache, dicht beisammen liegende Räder mit extrabreiten Reifen. Da könnte man sich schon die Frage stellen, ob das noch klassische Räder sind oder eher eine Mischung aus Rädern und Walzen, wie sie die alten Ägypter verwendet hatten.

Nahaufnahme von Schwertransport-Rädern: zwei extrabreite Räder direkt nebeneiander. Durch eine breite Rille in der Mitte jedes Reifens sieht es sogar aus, als wären es vier Räder.
Für die einen ist es eine Walze, für die anderen das wahrscheinlich längste Rad der Welt. (Bildquelle: Screenshot aus der Dokumentation »Schwertransport - 300 Tonnen Stahl auf Reisen« von Welt Nachrichtensender)

Unsere heutigen Fahrzeuge sind – wenn man es mal nüchtern betrachtet – auch in ihrer Beweglichkeit extrem eingeschränkt. Dass Ein- und Ausparken oft einer Yoga-Übung auf Guru-Niveau gleichen, haben wir in erster Linie den Unzulänglichkeiten von Rädern zu verdanken.

Ein Rad an sich kann nicht viel. Es rollt entweder vorwärts oder rückwärts. Damit unsere Autos nicht nur auf einer Geraden hin- und herfahren können, muss – vereinfacht dargestellt – eine der Achsen verdrehbar sein. Aber auch das führt gerade einmal dazu, dass man relativ langsam in einem mehr oder weniger großen Wendekreis seine Ausrichtung ändern kann. Wendigkeit ist etwas Anderes.

Audi hatte im Jahr 2004 ein Konzept-Auto mit dem Namen RSQ gezeigt, das dieses Problem löst. Es fährt nicht auf Rädern, sondern auf Kugeln. Damit kann man nicht nur vorwärts und rückwärts fahren, sondern ohne Wendemanöver in jede beliebige Richtung. Wenn man mit diesem Fahrzeug neben einer Parklücke steht, in die man auf den Zentimeter genau hineinpasst, kann man einfach seitlich hineinfahren und kommt genauso bequem wieder heraus. Daneben sehen unsere etablierten Vehikel wie das Walzenauto von Familie Feuerstein aus.

Konzeptauto von Audi. Statt Rädern sind komplett geschlossene »Radräume« vorhanden, die nach außen hin etwas ausgebuchtet sind und durch runde Fenster Blick auf eine Kugeloberfläche mit Wabenstruktur freigeben.
Der Audi RSQ ist aus dem Science-Fiction-Film »I, Robot« bekannt, der im Jahr 2035 spielt. Solche Autos will ich in diesem zukünftigen Jahr definitiv lieber auf der Straße sehen als rebellierende Roboter. (Bildquelle: Georgios Pazios (Alaniaris), Bild nachbearbeitet)

Dass sich das bisher nicht bewährt hat, liegt vermutlich daran, dass die Details noch nicht ausgereift sind. So kann ich mir zum Beispiel nur schwer vorstellen, wie man einen Reifen wechseln soll. Wenn so eine Radkugel bloß ein aufgeblasener Ball ist, führt ein einzelner Platter wahrscheinlich auch unmittelbar zu einem Totalschaden. Außerdem braucht so eine Kugel mehr Platz als ein Rad mit gleichem Durchmesser, daher könnte es im Wageninneren ganz schön eng werden.

Insgesamt scheitert der Audi RSQ wahrscheinlich daran, dass er sich noch zu sehr an die altbekannte Bauform von beräderten Fahrzeugen klammert. Für Erfolg müsste man sicher mehr als nur die Räder neu erfinden. Zum Beispiel könnte man statt vier großer Kugeln mehrere kleine an der Unterseite des Fahrzeuges anbringen. Die nehmen dann nach oben hin nicht so viel Platz weg und wenn eine einzelne platzt, schleift das Auto deshalb nicht gleich mit dem Unterboden am Asphalt.

Computermaus ohne Räder

Auch für andere Anwendungsfälle als Transport werden Räder eingesetzt. In einem davon wurden sie bereits erfolgreich abgelöst, nämlich in der Computermaus.

Die meisten von uns erinnern sich wahrscheinlich noch an Kugelmäuse. Bei diesen Zeigegeräten wurde eine Kugel über die Tischfläche gerollt und das Gerät um diese Kugel herum erfasste diese Bewegungen und ermittelte so die Position des Mauszeigers. Douglas C. Engelbart, der üblicherweise als Erfinder der Maus genannt wird, hatte in seinen ersten Prototypen aber stattdessen noch zwei Räder verbaut – jeweils eines zur Erfassung von horizontalen und vertikalen Bewegungen.

Grober Holzquader, aus dem zwei Räder hervorstehen, die sich zueinander in einem 90-Grad-Winkel befinden. Ein Kabel führt von dem Holzquader weg.
Unterseite eines frühen Maus-Prototypen von Douglas Engelbart. (Bildquelle: John Chuang, CC BY-ND 2.0)

Etwa zeitgleich mit Engelbart präsentierte auch Rainer Mallebrein von der deutschen Firma Telefunken ein Zeigegerät, das bereits auf einer rollenden Kugel basierte. Der wahre Erfinder der Maus ist deshalb umstritten, aber später wurde jedenfalls auch Engelbarts Maus zu einer Kugelsteuerung weiterentwickelt.

Die Räder waren dann zwar fürs Erste verschwunden, hatten aber im Geheimen doch noch einmal ein kleines Comeback. Als Kugelmäuse auf den Massenmarkt kamen, verwendeten sie nämlich versteckt im Gehäuse-Inneren wieder zwei Räder, um die horizontale und vertikale Bewegung der Kugel zu erfassen.

Schnittzeichnung durch eine Kugelmaus.
»Versteckte« Räder – oder zumindest radähnliche Bauteile – in einer optomechanischen Kugelmaus. (Bildquelle: Jeremykemp & Pbroks13)

Mittlerweile verzichtet die Sensorik in Mäusen komplett auf Mechanik. Räder wären damit endgültig passé … hätten wir jetzt nicht wie zum Hohn an der Oberseite ein Mausrad zum Scrollen.

Jetzt könnte ich darüber philosophieren, ob man nicht auch hier mit einer Kugel oder einer anderen Alternative besser bedient wäre, aber da gibt es so viele Möglichkeiten mit Vor- und Nachteilen zu beleuchten, dass es schon wieder einen eigenen Artikel wert wäre. Letztendlich fordere ich ja auch nicht, dass das Rad zwanghaft aus allen Lebenslagen verbannt wird, aber solche Grundbausteine zu hinterfragen, könnte Innovationen bringen, die uns im Gegensatz zu Zahnbürsten mit Internetverbindung als Menschheit mal wieder wirklich weiter bringen.

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Kommentare

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Bisherige Kommentare

  • Tony T

    Spannend! :)